Stadt der Denker

Autor: Martin Sander · 10.03.2005
Königsberg war im alten Preußen von militärischer und politischer Bedeutung. Doch für das Geistesleben Königsbergs interessierten sich die preußischen Herrscher kaum. Immanuel Kant war dem Voltaire-Freund Friedrich II völlig gleichgültig. Dabei waren neben Kant viele große Dichter und Denker mit der Stadt verbunden. Jürgen Manthey erzählt Königsbergs 750-jährige Geschichte als Geistesgeschichte.
Dass sich die Geschichte von Königsberg aber vor allem als Geistesgeschichte erzählen lässt, davon ist der Münsteraner Literaturwissenschaftler Jürgen Manthey zutiefst überzeugt.

Das deutsche Königsberg ist lange tot. Die Stadt am Frischen Haff, deren Grundstein der Deutsche Orden 1255 gelegt haben soll, wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs gründlich zerstört. Die letzten Deutschen gingen 1947 fort. Aus Königsberg war Kaliningrad geworden, eine russische Stadt. So hatte es Stalin auf der Potsdamer Konferenz gefordert und dafür Unterstützung der Westmächte erhalten. Der amerikanische Außenminister Byrnes am 6. September 1946:

"Die Staatsoberhäupter erklärten sich damit einverstanden, bei den Friedensverhandlungen den Vorschlag der Sowjetunion hinsichtlich der endgültigen Übertragung der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebiets an die Sowjetunion zu unterstützen."

Für seine neuen Herren war das alte Königsberg der Inbegriff des Preußischen Militarismus. Die Erinnerung an seine Geschichte galt es zu tilgen. Das gelang. Aber auch in Deutschland ist Königsberg nach und nach in Vergessenheit geraten.
Jürgen Manthey, Literaturwissenschaftler aus Münster, geboren in Elbing unweit von Königsberg, begegnet diesem Zustand mit einem 750 Seiten füllenden Werk. Darin lässt er - neben vielen unbekannten - die großen Dichter und Denker Revue passieren, die Königsberg verbunden waren: Gottsched, Hamann, Herder, Kant, Fichte, Kleist oder E.T.A Hoffmann.

Doch es geht nicht nur darum. Die Geschichte einer - so der Untertitel - "Weltbürgerrepublik" erzählt Manthey, um zu zeigen, wie sich in Königsberg früher und deutlicher als andernorts in Deutschland Aufklärung, bürgerliches Selbstbewusstsein und liberales Politikverständnis etablieren konnten. Manthey fragt nach dem "innovativen Potenzial" von Königsberg. Er findet die Antwort in der geographischen und geistigen Distanz zwischen den Kaufleuten und Handwerkern der Hafenmetropole und den brandenburgischen Landesherren.

"Auf eine Liste mit Faktoren, die zur Erklärung heranzuziehen wären, gehört gewiss voran die spezifische politische Konstellation an diesem Ort: die von Anfang an bestehende Dichotomie oder Doppelstruktur der Machtverhältnisse, jenes duale System aus Staat und Stadt, das wie ein Riss durch das Bewusstsein der Einwohner lief. Ein städtisches, kaufmännisches Bürgertum verharrte letztlich unversöhnt mit einer von außen oktroyierten Herrschaftsform, Herrschaftsgewalt."

Dieser Bürgersinn ist - so Manthey - der Boden, auf dem später die Philosophie eines Immanuel Kant gedeihen und sein Ruf nach dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft gehört werden konnte. Doch die Reichsgründung von 1870 kehrt auch in Königsberg die Verhältnisse um. Manthey konstatiert die Niederlage des Liberalismus und den Sieg des nationalistischen deutschen Obrigkeitsdenkens in der Stadt.

Jetzt stolzierten die schneidigen Leutnants über dieses Pflaster, und in ihrem herrischen Schritt kündigten sich schon die brutalen Stiefeltritte an, mit denen dieser Staat dabei war, sich auf dem internationalen Parkett erst lächerlich und dann verhasst zu machen.

"Hochverehrte Herren, als vor nunmehr zweihundert Jahren der Sohn des großen Kurfürsten sich in Königsberg die Königskrone aufs Haupt setzte..."

Die Geschichte deutscher Demokratiefeindlichkeit und Bürgerverachtung endete nicht mit Wilhelm II, hier in einer Rede von 1901. An der Königsberger Albertina, der Universität des Aufklärers Immanuel Kant, wird sich in den dreißiger Jahren eine Gruppe nationalsozialistischer Sozial- und Volkstumsforscher etablieren, die unter anderem die Vertreibung von Juden und Slawen in Mittel- und Osteuropa planen. Theodor Schieder, Werner Conze oder Arnold Gehlen. Die Aufklärung ging auch in Königsberg unter, wenngleich nicht vollständig. Die 1906 als Kind jüdischer Eltern geborene, in Königsberg aufgewachsene Philosophin und Kantianerin Hanna Arendt jedenfalls, die Nazi-Deutschland 1933 verlassen musste, hat im Rückblick einmal bekannt:

"In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg. Manchmal verheimliche ich mir das. Aber es ist so."

Spannend in ihrer intellektuellen und politischen Zuspitzung, faszinierend durch ihre Materialfülle, erzählt Jürgen Manthey die Geschichte Königsbergs als ein herausragendes Kapitel deutscher Geistesgeschichte.

Jürgen Manthey: "Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik"
Hanser Verlag
750 Seiten, 29,90 €