Staatskrise im Libanon

Jetzt beginnt die eigentliche Revolution

24:21 Minuten
Eine Protestierende mit Maske auf einer Straßendemonstration in Beirut
Der Rücktritt der Regierung ist den Protestierenden nicht genug, sie fordern ein unabhängiges Kabinett. © Julia Neumann
Von Julia Neumann · 17.08.2020
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Die Wut der Libanesen auf ihre Politiker ist groß. Und das nicht erst seit der Explosion Anfang August. Land und Wirtschaft kollabierten schon vorher. Nun ist die Regierung zwar zurückgetreten, den Schaden aber beheben Hunderte Freiwillige.
Auf dem Balkon eines hellgelben Hauses mit weißen Rundbögen im Beiruter Viertel Aschrafieh stehen Helferinnen mit Helmen und Handschuhen. Sie werfen Säcke mit Ziegelsteinen hinunter. Neben einem Haufen von Schutt und den Steinen steht Sabine Soueidy und gibt Anweisungen.
"Es gibt einen Spruch: Beirut wurde viele Male zu Boden gebracht. Ich glaube, das ist das achte Mal, dass es fällt – und wir bauen es selbst wieder auf."
Das alte Haus, das die 23-jährige Politikstudentin seit dem Morgen von Schutt, Asche und Wandsteinen befreit, ist eines der ältesten Häuser in dem Beiruter Stadtviertel Mar Mikhael. Die Straße, auf der sie steht, war eine Flaniermeile, mit Bars, Cafés und Restaurants. Doch seit vergangener Woche kommen die Leute nicht zum Ausgehen, sondern zum Aufräumen.
Am 4. August detonierten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt. 170 Menschen starben, 6000 wurden verletzt, rund 250.000 verloren innerhalb von Sekunden ihr Zuhause.

Hunderte Freiwillige räumen auf

Fensterscheiben sind zerschlagen, ihre Glasscherben liegen auf dem Boden. Stühle, Bilderrahmen, Blumentöpfe sind durch die Druckwelle auf die Straße gefallen, Balkone und Hauswände eingekracht. In den Wohnungen liegen Türen auf Betten, Fensterläden liegen übereinander gestapelt auf Brettern, Wandgestein, Klamotten und Habseligkeiten.
In den Tagen nach der Explosion kommen Hunderte Freiwillige in die zerstörten Viertel. Sogar Syrerinnen und Syrer sowie ausländische Hausangestellte räumen mit auf, obwohl sie im Libanon sonst wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Während die Menschen die Arbeitshandschuhe überstreifen, Glasscherben aufsammeln und Steine schleppen, stehen Militär und Polizei daneben.
Deshalb ist auch Sabine Soueidy wütend auf die politische Elite im Libanon. "Wir sehen die Abwesenheit der Regierung, und deshalb ist es an uns, ihre Aufgabe zu übernehmen. Wer sonst räumt Beirut auf?"
Senfgelbes Haus mit Art Deco in Beirut, davor Zeichen der zerstörerischen Explosion
Das senfgelbe Haus mit Art Deco in dem Badia Khairallah mit seiner Frau zur Miete wohnt.© Julia Neumann
Etwas weiter in dem Viertel, die Treppen hinauf auf einen Hügel, steht ein senfgelbes Haus. Die schwarzen Metalltüren und Balkongitter sind mit Rechtecken im Art Deco Stil verziert. Das Gebäude aus der Kolonialzeit begrüßt sonst die Gäste mit einem kleinen Springbrunnen, doch am Eingang liegen Tonscherben, Textilien und Holzstreben. Der 26-jährige Architekt Bahaa Baschnak setzt einen Helm auf und tritt ein.

Was die Menschen tatsächlich brauchen

"Wir arbeiten mit einer Solidaritätsinitiative, wir schauen, wie wir Menschen helfen können, wie sie betroffen sind, und wollten nach ein paar Informationen fragen."
"Wie viele Räume wurden beschädigt?"
"Ein, zwei, drei. Drei und die Küche."
"Brauchen Sie eine andere Unterkunft?"
"Nein, nicht nötig."
"Was benötigen sie am meisten? Essen, Medizin, Reparaturen, Kleidung oder Unterkunft?"
"Reparaturarbeiten."
"Okay, das war alles. Danke schön. Wir sind eine Initiative und es gibt viele Spenden, deshalb schauen wir, was die Menschen tatsächlich brauchen. Brauchen Sie jemanden, der saubermacht?"
"Nein, ein paar Jugendliche kamen schon vorbei und haben aufgeräumt. Wir müssen nur noch den Müll vom Gehsteig räumen."
"Inwiefern glauben Sie, dass die Initiative wichtig ist, weil der Staat abwesend ist?"
"Das kann ich nicht sagen. Die Leute, die jetzt hier sind, seid ihr. Gott beschütze euch."
Der 26-jährige Architekt Bahaa Baschnak mit Helm und Maske vor einem senfgelben Haus
Der 26-jährige Architekt Bahaa Baschnak möchte die Pläne zum Wiederaufbau der Häuser nicht der Regierung überlassen.© Julia Neumann
Bahaa Baschnak ist einer von freiwilligen Architekten, die in Eigeninitiative eine soziologische Studie erstellen. Sie sammeln Daten über den Grad der Zerstörung, die historische Bedeutung der Häuser und die Menschen, die darin wohnen. Das alles ohne die Legitimation des Staates.

Wir sollten die Pläne nicht der Regierung überlassen

"Nach dieser Phase der ersten grundlegenden Beobachtungen wird es eine weitere Phase geben, in der professionelle Architekten und Ingenieure die Gebäude und Schäden untersuchen, bestimmen, welche Gebäude renoviert und wiederaufgebaut werden sollen", sagt er.
"Natürlich brauchen wir einen Plan, wie wir all diese Schäden beheben können. Aber wir sollten diese Pläne nicht der Regierung überlassen. Natürlich würden sie gerne das tun, was sie auch nach dem Bürgerkrieg in der Innenstadt getan haben: Alle Menschen aus dem Gebiet evakuieren, und es verändern: Seine Geschichte und soziale Struktur zerstören und stattdessen Hochhäuser bauen."
Die Menschen gehen nicht davon aus, dass der Staat ihnen nach der Katastrophe zur Seite steht. Doch das Vertrauen ist nicht erst seit der Explosion verloren.
Im Herbst vergangenen Jahres gingen Hunderttausende Menschen im ganzen Land auf die Straße – sie prangerten Korruption und Misswirtschaft ihrer Politiker an, die das Land in den Staatsbankrott geführt haben. Seit dem Ende des Bürgerkrieges vor 30 Jahren sind Oligarchen an der Macht, die sich nicht um das Gemeinwohl scheren.
Stattdessen haben die Parteien entlang konfessioneller Linien den Staat unter sich aufgeteilt, erklärt Bassel Salloukh, Politikwissenschaftler an der libanesisch-arabischen Universität in Beirut. "Der Libanon der Nachkriegszeit wurde um eine Art politischer Ökonomie des Sektierertums herum organisiert. Die konfessionell-politische Elite hat die Ressourcen des Staates, die Finanzen des Staates, die Institutionen des Staates genutzt, um sich entweder zu bereichern oder Arbeitsplätze und Positionen für ihre Anhänger zu schaffen."

Der Staat ist bankrott

Geld aus Steuern oder für die vom Staat geplanten Infrastrukturprojekte floss durch Korruption in private Taschen. Der öffentliche Sektor ist aufgebläht, jahrelang lebte der Libanon über seine Verhältnisse, der Staat ist bankrott. Die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro – knapp 170 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
In dem System liehen Privatbanken der Zentralbank Geld, die wiederum gab es an den Staat weiter – für hohe Zinsen. Auch die Privatbanken lockten mit hohen Zinsen, sodass Menschen aus dem Ausland kräftig anlegten. Doch das Vertrauen in dieses Ponzi-System, besser bekannt als Schneeballsystem, ist verloren gegangen.
Die Anlagen in starken ausländischen Währungen wie dem Dollar bleiben aus – und so kommt es, dass das libanesische Pfund rund 70 Prozent seines Wertes eingebüßt hat. Die Inflation führt dazu, dass die Lebensmittelpreise steigen – innerhalb eines Jahres um mehr als das Doppelte.
Die Fleischtheke von Ibrahim Issa ist Ende Juli karg ausgestattet. Ein paar Würste liegen darin und etwas Hackfleisch. Der 40-Jährige ist Metzger, sein Geschäft im Süden Beiruts ist klein, die Auslage auf das Mindeste reduziert, denn nur wenige Menschen kommen diese Tage in seinen Laden.
"Unsere Wirtschaft ist am Boden, es gibt 90 Prozent weniger Arbeit. Ich muss das importierte Fleisch in Dollar bezahlen, deshalb ist das Fleisch sehr teuer. Wir arbeiten mit Verlust, nur um den Laden nicht schließen zu müssen und unsere Kunden nicht zu verlieren", sagt er.
"Weil das Fleisch sonst zu teuer wäre, verkaufen wir es zum gleichen Preis, für den wir es einkaufen - also zahlen wir aus eigener Tasche drauf. Für den Laden fallen viele Kosten an: Die Miete, der Strom, all das muss ich bezahlen, aber die Arbeit ist viel weniger geworden. "

Libanesen können sich das teure Fleisch nicht leisten

Während Ibrahim Issa vor der Krise 60, 70 Kilo Fleisch am Tag verkaufte, sind es diese Tage weniger als zehn Kilo. Die Menschen können sich das teure Fleisch nicht leisten. Durch die Krise haben Tausende im Libanon ihre Arbeit verloren.
Ein heißer Tag Ende Juli: Vor dem Uniklinikum der US-amerikanischen Universität in Beirut stehen Elektriker, Pflegepersonal und Menschen aus der mittleren Führungsebene. Sie protestieren gegen die Entscheidung der Krankenhausführung, ihnen von einem auf den anderen Tag zu kündigen.
Eine der 800 Entlassenen ist die 28-jährige Amani Hashem. "Ich war fünf Jahre lang Pflegerin im Krankenhaus der Universität. Ich habe freiwillig auf der Corona-Station gearbeitet, weil niemand sonst dort helfen wollte", erzählt sie. "An einem Freitag konnte ich mich plötzlich nicht mehr am Computer einloggen. So habe ich erfahren, dass ich entlassen wurde: Wegen des Coronavirus und der Finanzkrise."
Amani Hashem kritisiert, dass die Krankenhausverwaltung weiterhin üppig bezahlt werde, während die Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen werden.
"Das ist unmoralisch und unfair. Vor ein paar Jahren hat eine Kollegin, die lange vorher im Krankenhaus gearbeitet hat, zu mir gesagt: 'Die US-amerikanische Universität ist der Libanon im Kleinen.' Ich habe geantwortet: 'Nein, natürlich nicht!' Aber heute weiß ich: Ja, die Universität ist der Libanon im Kleinen, wo die Verwaltung Geld stiehlt und die hart arbeitenden Menschen leiden."
Das Missmanagement der Regierung, die Wirtschaftskrise, die Corona-Pandemie – der Libanon hatte bereits vor dem 4. August gewaltige Herausforderungen zu meistern. Und nun klafft ein Krater im Hafen von Beirut, Menschen leben ohne Zuhause, ohne Fenster und ohne ihre Angehörigen.

Keine Hoffnung für dieses Land?

Nun, da sich das Staatsversagen auf diese tragische Art entladen hat, kommen die wütenden Bürgerinnen und Bürger in Massen zurück auf die Straßen.
"Ich bin hier, weil wir genug haben. Alles, was geschieht, ist so schlimm. Die Explosion war schrecklich, mein Bruder war kurz davor, zu sterben. Wir alle waren kurz davor, zu sterben. Es gibt keine Hoffnung für dieses Land."

Wie realistisch sind echte Veränderungen im Libanon, wenn die Verantwortlichen für die Explosion bisher nicht einmal ein Wort des Bedauerns geäußert oder auch nur erklärt haben, wie es passieren konnte? Wenig realistisch, meint unser Korrespondent Björn Blaschke in Beirut: Audio Player

"Seit einer Weile macht uns allen die schreckliche Wirtschaftskrise zu schaffen. Wir leiden. Viele Eltern können sich keine Schulgebühren mehr leisten, viele Kinder gehen jeden Abend hungrig ins Bett. Diese Regierung hat nichts getan, absolut nichts. Und diese Explosion ist ein Verbrechen. Sie haben ein Verbrechen begangen. Deshalb sind wir heute hier: Wir wollen eine Veränderung! Wir wollen, dass der Präsident zurücktritt und alle in dieser Regierung zurücktreten."
Die Menschen glauben: Die Katastrophe hätte verhindert werden können. Seit dem Sommer 2014 lagen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen – ohne Sicherheitsvorkehrungen. Auch wenn die Zollbehörde bei Justiz und Politik Alarm schlug: passiert ist nichts.
Wohl, weil der Hafen eine der korruptesten und für die politische Elite lukrativsten Institutionen ist. Zahlreiche Gruppierungen, Politiker und die Hisbollah haben dort Einfluss. Anstatt die Geschehnisse rund um die Explosion unabhängig aufzuarbeiten, wurde der Militärrichter Fadi Akiki ernannt, um die Explosion zu untersuchen. Akiki ist der Ehemann der Nichte des Parlamentssprechers Nabih Berri.
"Diese Katastrophe traf die Libanesen bis ins Mark und ereignete sich aufgrund von chronischer Korruption in Politik, Verwaltung und Staat. Ich habe zuvor gesagt, dass das System der Korruption bis ins Knochenmark des Staates fließt, aber ich habe festgestellt, dass die Korruption größer ist als der Staat selbst."
Sagte Regierungschef Hassan Diab am vergangenen Montag und reichte seinen Rücktritt ein. Ohne Namen zu nennen, resignierte er vor einer politischen Klasse, die schmutzige Methoden anwende, um ihre Gewinne und Positionen zu bewahren.

Unabhängiges Kabinett mit zusätzlichen Befugnissen gefordert

Doch vielen Protestierenden ist das nicht genug, erklärt Politikwissenschaftler Salloukh. "Die säkularen Gruppierungen möchten ein unabhängiges Kabinett mit zusätzlichen verfassungsmäßigen Befugnissen. Ein Kabinett, das mit der internationalen Gemeinschaft, insbesondere dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, verhandeln könnte, um sich auf vernünftige Reformen zu einigen", sagt er.
"Also solche, die den Armen nicht schaden, aber Korruption und die öffentlichen Ausgaben unter Kontrolle bringen und dadurch die Art von Finanzhilfe beschaffen, die dem Land hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Und nun, nach dieser verheerenden Explosion, natürlich auch die Art von Finanzhilfen heranholen, die an die richtigen Stellen gehen würden, um das Land wiederaufzubauen."
Proteste mit smbolischem Galgen gegen die Regierung in den Straßen Beiruts
Proteste gegen die Regierung in den Straßen Beiruts: Viele glauben, die katastrophale Explosion hätte verhindert werden können.© Julia Neumann
Von dem Rücktritt der Regierung zeigt sich auch die Politikstudentin Sabine Soueidy unbeeindruckt. "Das war mehr oder weniger absehbar. Die Regierung hatte sich gerade neu gebildet und weder öffentlich noch intern starken Rückhalt. Von außen wurden sie als Gruppe unabhängiger Politiker wahrgenommen, aber wir alle wissen, dass die eigentliche Macht und Entscheidungsfindung von den alten politischen Parteien stammte."
Sie möchte weiter auf die Straße gehen – um aufzuräumen und zu protestieren.
"Was ich als nächstes erwarte? Jetzt beginnt die eigentliche Revolution, und die alte Gruppe tritt jetzt beiseite. Nun beginnt der Kampf, weil wir jetzt hinter den größeren Köpfen her sind, größere, die mehr Verantwortung tragen. Diejenigen, die gestern zurückgetreten sind, waren nur die vorderste Reihe der korrupten Politiker. Dieser Etappensieg wird unseren Zorn nicht beruhigen. Im Gegenteil: Er hat ihn erst entfacht, um weiterzumachen, und immer stärker gegen die Verantwortlichen vorzugehen."
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