Spurensuche

Vorgestellt von Jochen Thies · 04.02.2007
Mit 1392 Kilometern war die Reichsstraße 1 einst die längste Straße des Landes. Sie führte von der holländischen Grenze im Westen bis zur Grenze zur Sowjetunion im Osten. Die Journalistin Patricia Clough hat sich auf die Reise begeben und auf ihrer Fahrt auf dieser historischen Strecke viel über die Geschichte und Gegenwart Deutschlands erfahren.
Patricia Clough, in der alten Bundesrepublik viele Jahre als Korrespondentin für britische Zeitungen tätig, hat sich in den letzten Jahren auch als Buchautorin einen Namen gemacht, etwa mit einer viel beachteten Biographie über Hannelore Kohl oder die Geschichte des Überlebens der ostpreußischen Trakehner-Pferde im Jahre 1945. Dabei fasst sie Themen an, die die deutsche Konkurrenz zu dem Ausruf bringen müsste: "Warum musste das eine Britin machen, warum bin nicht drauf gekommen"?

In besonderer Weise gilt dies für das jüngste Werk der studierten Germanistin. Patricia Clough fährt in Etappen eine große deutsche Fernstraße ab, die einstmals von Aachen über Berlin und Königsberg bis an die Grenze Litauens führte. Sie trug viele Namen. Auf dem Gebiet des wieder vereinigten Deutschlands ist es die B1, die Bundesstraße 1, die in Küstrin endet, die aber über Polen und den Sonderverwaltungsbezirk Kaliningrad weiterführt bis zum früheren Eydtkuhnen, heute ein Verkehrknotenpunkt.

Was sich links und rechts der Straße abspielt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte unseres Landes, die Patricia Clough geschickt arrangiert und in viele kleine Geschichten herunter bricht, zunächst ihre ganz eigene.

"Vor vielen Jahren, als ich einmal mit dem Auto bei Aachen von den Niederlanden über die Grenze nach Deutschland fuhr, sah ich am Straßenrand ein schlichtes weißes Schild. Darauf stand einfach: ‚Königsberg 1000 km’.
Merkwürdiges Volk, diese Deutschen, dachte ich und fuhr weiter. Erst mehrere Jahre später wurde mir klar, dass dieses Straßenschild etwas damit zu tun haben musste, dass die Straße, auf der ich damals nach Deutschland gekommen war, einmal die Reichsstraße Nummer 1 gewesen war. Diese war eine Zeit lang die längste Straße des Landes, berühmt für ihre enorme Reichweite – 1392 Kilometer von der holländischen Grenze im Westen bis zur damaligen Grenze zur Sowjetunion im Osten. Noch berühmter aber waren die 1000 Kilometer, die angeblich Aachen von Königsberg trennten."

Das besondere an Patricia Cloughs Buch ist, dass sie einen von Freundschaft, Kenntnisreichtum und Warmherzigkeit geprägten Blick auf Deutschland hat. Hinzu kommt ein Gespür für große und kleine Themen, das ein deutscher Autor so nicht haben würde. Gerade dies macht den Reiz der Lektüre aus.

Zu den interessantesten Passagen des Buches gehören jene, die sich mit der jüngeren deutschen Geschichte befassen, mit den Folgen des Nationalsozialismus oder der deutschen Teilung. Kurz vor der Ankunft in Magdeburg, am alten Grenzkontrollpunk in Helmstedt, begibt sie Patricia Clough auf Spurensuche:

"In dem Verwaltungsgebäude hinter der früheren Grenzkontrolle stellen Mitarbeiter die Geschichte der Grenze zusammen. Insbesondre sammeln sie Zeitzeugenberichte von Deutschen beiderseits der Grenze. Sie haben einen Aufruf gestartet, die Menschen sollten ihnen ihre Geschichte erzählen. Die Resonanz war gut – bei den ehemaligen Westdeutschen. Deren Berichte türmen sich zu einem riesigen Berg an Material, worüber bereits in den Medien berichtet wurde.
Problematisch war es, Zeugnisse von der östlichen Seite zu sammeln, insbesondere von jenen die Teil der Überwachungs- und Unterdrückungsmaschinerie waren. Viele von denen, die am Grenzkontrollpunkt Marienborn arbeiteten, leben auch heute noch in den Dörfern der Umgebung, doch fast alle haben es vorgezogen zu schweigen. Soweit es sie persönlich betrifft, mag das auch so bleiben. Doch nicht nur für die Historiker in Marienborn, sondern auch für alle anderen, die versuchen diesen bestimmten Aspekt der deutschen Geschichte zu erforschen und zu dokumentieren, ist dies eine äußerst frustrierende Erfahrung."

Spannend wird Patricia Cloughs Reise auf der alten Fernstrasse, als sie sich ihrem Ende nähert, in Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Hier macht sie die folgenden Beobachtungen:

"Die Kaliningrader sind anders als andere Russen", bemerkt Dr. Eckhard Matthes, Herausgeber der deutschen Ausgabe der Neusiedler-Befragung, der selbst als führender Experte für die Region gilt. Seit über einem halben Jahrhundert ist die Oblast ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Nationalitäten, die aus dem gesamten Sowjetreich hierher kamen. Und sie alle seien auch geprägt durch ihre Umgebung. Obwohl die Oblast für Westler gesperrt war, so Matthes, sei sie doch auch schon vor der Wende viel offener für die Welt gewesen, als man vermuten würde. Aus den Häfen des Gebiets fuhren Matrosen in die ganze Welt, mit anderen Schiffen kamen Seeleute von außerhalb. Viele Soldaten der großen Kaliningrader Militärgarnisonen waren zuvor in anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion stationiert. Polen, Lettland und Litauen mit ihrer schon "westlicheren" Atmosphäre lagen gleich nebenan. Dies bildete einen starken Kontrast zu dem größten Teil des übrigen Russlands, wo die meisten Menschen selten reisen und "das Ausland" immer noch mit Argwohn, ja, sogar Angst betrachtet wird. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergrößerte sich die Offenheit noch um ein Vielfaches." "Die Kaliningrader sind viel westlicher geworden als die Russen", sagt. Dr. Matthes."

Es bleibt abzuwarten, welche positiven Auswirkungen dies auf die Region, also auch auf Polen und die baltischen Staaten haben wird. Patricia Clough ist hier zurückhaltend:

"Wie sich das Gebiet weiterentwickelt und ob es eines Tages nach irgendeiner Form der Unabhängigkeit von Russland streben wird, steht in den Sternen. Die offizielle Nervosität jedenfalls, die dieses Gebiet von Anfang an begleitet hat, ist nicht verschwunden. Im Gegenteil – man hört, dass Moskau die Zügel wieder anzieht, dass die alten Seilschaften auch weiterhin den Forschritt bremsen und die Geheimpolizei sich wieder stärker bemerkbar macht."

Ein paar Autostunden entfernt, am Fluss Lepone endet die Reise, an einem blauen EU-Schild, das die Grenze zu Litauen markiert. Patricia Clough kommt hier zu einem Resümee, das im Grunde genommen die Erfahrungen einer Generation widerspiegelt:

"In den gut sechzig Jahren, seitdem es die Reichsstraße 1 nicht mehr gibt, ist ‚der Westen’ hier an der Lepone zum ‚Osten’ geworden, der ‚Osten’ wurde ‚Westen’ und überhaupt wurde die ganze Welt wahrhaftig auf den Kopf gestellt."

Patricia Clough: Aachen - Berlin - Königsberg
Eine Zeitreise entlang der alten Reichsstraße 1

Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer
Dva