Spurensuche nach dem Phänomen der Zeit

Von Adolf Stock · 26.06.2005
Stress, Hektik und Zeitmangel bestimmen den Alltag vieler Menschen. Nun kamen vier Direktoren von Weltkulturerbestätten, der Kultusminister von Sachsen-Anhalt und ein Zeitforscher zusammen, um sich in aller Ruhe im Schloss Luisium bei Dessau auf die "Spurensuche nach dem Phänomen der Zeit" zu machen.
Das Luisium ließ Fürst Franz von Anhalt-Dessau für seine Gemahlin bauen. Schloss und Park gehören zum Wörlitzer Gartenreich. Wer hier herkommt, sucht den Einklang mit der Natur, und so versteht sich Thomas Weiss, Direktor der Stiftung Dessau Wörlitz, auch als ein Sachwalter der Entschleunigung.
"Ich würde gerne versuchen, die Menschen dazu zu verleiten, durch unterschiedliche Aktivitäten, auch durch diese Tagung, die Gärten mit anderen Augen zu sehen, um aus dieser Geschwindigkeit, wenn sie die Autobahn A9 verlassen und in die Gärten kommen, dass sie innerlich merken, wie sich eine andere Geschwindigkeit einstellt, das ist letztendlich meine Absicht. "

Damen im luftigen Sommerkleid, die gut gelaunten Direktoren der vier Weltkulturerbestätten, ein entspannter Minister und ein neugieriges Publikum. Der Park, das Schloss und die Orangerie waren ein perfektes Ambiente, um über die Zeit nachzudenken. Der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler gab gleich zu Beginn einen Überblick: Grob gesagt gibt es drei Phasen. Es gab eine Zeit vor der Erfindung der Uhr, es gibt die Zeit mit der Uhr, und heute sind wir an der Schwelle zu einer neuen Zeitordnung, in der die Uhr an Bedeutung verliert und durch das Handy ersetzt wird.

Doch schön der Reihe nach. Il tempo. In romanischen Ländern gilt für Zeit und Wetter ein und dasselbe Wort. Das verweist auf die alte Zeit, als der Mensch noch im Einklang mit der Natur lebte. Der Rhythmus wurde bestimmt durch die Jahreszeiten und durch den Wechsel von Tag und Nacht.

Ausgerechnet die Nonnen und Mönche waren mit der von Gott gegebenen Zeit unzufrieden. Sie wollten nicht irgendwann, sondern regelmäßig und möglichst pünktlich beten. So wurden sie zur Avantgarde einer neuen Zeitauffassung, die den natürlichen Rhythmus durch einen strengen Zeittakt ersetzte. Technisch wurde das möglich durch die Erfindung der Uhr. Martin Luther, sagt Stefan Rhein, Direktor der Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt, ist hier ein ganz besonders spannender Fall.

"Er wusste zum Beispiel nicht einmal sein Geburtsjahr. Also er kommt aus einer Zeit, die ganz vormodern natürliche Zeit definiert hat. In den 1520er Jahren ist er einer der ersten, der eine Uhr geschenkt bekommt. Also er ist auf einmal mit der Nase schon in der Zukunft. Er war ganz fasziniert von der Uhr. Er hat sofort gespürt, das sei einer der wichtigsten Menschheitserfindungen, die er erlebt. "

Später wusste Luther sehr genau, dass Zeit auch Geld bedeutet. Und seit den Schriften von Max Weber wissen aufgeklärte Zeitgenossen, dass die protestantische Ethik den Kapitalismus befördert und ermöglicht hat.

"Wir haben es erfunden, ganz genau, also es kommt aus Wittenberg. Es ist ein Wittenberger Erbe, was wir in die Welt hineingetragen haben. Also dass diese westliche Kulturkonzeption zu einer Wirtschaftskonzeption und so erfolgreich geworden ist, das haben wir, ja was soll ich sagen, Luther zu verdanken - oder sind wir auch Opfer von Luther? "

Sachsen-Anhalts Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz ist auch so ein Luther-Opfer. Er war nicht als Minister nach Dessau gekommen, sondern als Privatier, weil er keine Lust verspürte, in offizieller Mission den Gruß-August abzugeben. Stattdessen nahm er sich die Zeit, einen Vortrag über die Zeit zu schreiben.

" Das hat mich so fasziniert als jemand, der in einem so engen Zeitkorsett steckt und sich damit auch ziemlich rumquält, dass ich hier nicht Sklave irgendeiner fremden Zeitvorgabe bin, sondern die Zeit selbst mit ein paar Gedanken ausfülle, die sie dann auch nicht vertreibt sondern eigentlich lang werden lässt. "

Jan-Hendrik Olbertz, Sachsen-Anhalts Kultusminister, war dem Geheimnis der Substanz auf der Spur. Wie altern die Dinge? Qualitätvolle Dinge bekommen mit der Zeit Patina und Würde, der Rest verfällt und verschwindet einfach. Solche Fragen interessierten auch Omar Akbar, Direktor der Bauhaus-Stiftung Dessau. Eigentlich wollten die Bauhäusler ja zeitlos sein. Sie blickten verächtlich auf die alte Zeit. Sie waren modern und wollten es für immer bleiben. Ein Leben jenseits der Zeit. Das war ebenso naiv wie vermessen, wenn man an die Diskussionen über die Postmoderne oder die Zweite Moderne denkt. Das Bauhaus ist halt doch in die Jahre gekommen, und damit hat Bauhaus-Chef Omar Akbar so seine liebe Not. Denn das historische Bauhaus soll Vorbild und Maßstab für die aktuelle Arbeit sein.

"Weil wir von allen Seiten gefragt werden, verflucht werden, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass wir überhaupt keine Zeit haben, weil irgendwo ein Punkt da ist, wir müssen liefern, unbedingt was liefern, was adäquat erscheint, und es wird nie adäquat sein, weil das andere nicht erreichbar ist, weil das andere ein Mythos ist."

Heute, so Zeitforscher Karlheinz Geißler, lässt sich die Zeit durch Beschleunigung nicht mehr verdichten. Die Mittel sind ausgereizt. Die Stechuhr geht, stattdessen tritt der Simultant auf den Plan. Simultanten sind Menschen, die viele Dinge gleichzeitig tun. Bei ihnen hat die Uhr als Ordnungsinstrument ausgedient und wird durch das Handy ersetzt.

"Wenn das Handy die Uhr ersetzt, dann fällt zum Beispiel die Pünktlichkeitsnorm weg, das heißt, man muss nicht mehr pünktlich sein und kann trotzdem verbindlich sein und zwar dadurch, dass man immer kurzfristig anruft. Und man kann die Pünktlichkeit wenn man so will kurzfristiger organisieren und dazu braucht man nicht die Uhr, sondern man sagt, ich kommt jetzt in zehn Minuten, bist du zuhause? Oder, ich komme eine Stunde später, mach noch irgend was, so dass ich quasi die Zeit verdichten kann, auch derjenige, der sozusagen wartet, kann in dieser Viertelstunde noch was tun und verliert keine Zeit."

Wir sind gerade dabei, die Zeit völlig neu zu organisieren. Das Internet kennt keine Zeit, es ist weltweit Tag und Nacht geöffnet. Und das Handy - mit den vielen schönen Klingeltönen - ist überall gesprächsbereit. Auch im Wörlitzer Gartenreich. Dabei hat Direktor Thomas Weiss über ein Handy-Verbot in seinen Parks noch gar nicht so richtig nachgedacht, wenn er das Loblied auf den Slow-Garden und auf die Entschleunigung singt.