"Spuren hinterlässt das schon"

Moderation: Sigried Wesener und Holger Hettinger · 05.09.2006
Günter Grass kann die Angriffe nach seinem Eingeständnis, in der Waffen-SS gewesen zu sein, nicht so einfach wegstecken. Manches harte Urteil schmerze sehr, sagte der Literatur-Nobelpreisträger im Deutschlandradio Kultur. Andererseits habe er in den vergangenen Wochen auch viele unterstützende Zuschriften erhalten, die ihm geholfen hätten. Grass verteidigte noch einmal den späten Zeitpunkt seines Eingeständnisses.
Holger Hettinger: Geniale PR-Maßnahme oder eine Information die nach all den Jahren einfach raus musste? Die Literaturkritik ist sich uneins darüber, wie sie das späte Bekenntnis von Günter Grass bewerten soll, wonach er als Jugendlicher in die Waffen-SS eingetreten ist. "Wir sind verführt worden und ich habe mich verführen lassen", so formuliert Günter Grass seine Beweggründe. Nun ist seine Autobiographie "Beim Häuten der Zwiebel" in den Buchläden und Günter Grass ist auf Lesereise. Gestern war er in Berlin. Am Rand dieser Lesung hat meine Kollegin Sigried Wesener mit Günter Grass gesprochen. Dieses Gespräch hören Sie gleich.

Sigried Wesener ist nun hier im Studio. Frau Wesener, bei den wenigen öffentlichen Auftritten von Günter Grass nach seiner Offenbarung hatte man so ein bisschen den Eindruck, dieser Mann ist sehr angespannt, wenn es um seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS und um sein spätes Bekenntnis geht. Wie haben Sie ihn erlebt?

Sigried Wesener: Er wirkte sehr souverän gestern Abend im Berliner Ensemble, sehr wach, sehr aufmerksam. Und Wolfgang Herles vom ZDF hatte sicher keine leichte Aufgabe, Fragen zu stellen, die unbequem sind. Günter Grass ist ein exzellenter Leser seiner Texte. Er wechselte souverän zwischen dem blauen Sofa und dem Stehpult. Da ist er zu Hause. Er schreibt ja auch zu Hause am Stehpult und war exzellent. Er hatte das Publikum da ganz und gar auf seiner Seite und Wolfgang Herles versuchte nun diesem Rätsel des Schweigens ein bisschen auf die Spur zu kommen und man kann, wenn man die Antworten von Günter Grass hört, möglicherweise auch wieder hört, auf Fragen, die sich auch ähneln, vermuten, dass sich Günter Grass etwas zurecht gelegt hat, dass er möglicherweise auch sehr stereotyp antwortet.

Wenn man das Buch gelesen hat, denke ich, kommt man zu einer anderen Antwort, weil Günter Grass stellt sich viele dieser Fragen selbst in dem Buch. Das ist Teil dieses Buches. Es ist ein Erinnerungsbuch, kein Sachbuch. Also er versucht sich selbst auf die Schliche zu kommen: Wie ist es möglich, dass dieser Junge von der Nazi-Ideologie so beeinflussbar war in Danzig damals? Und wie war es möglich, dass er in diese Waffen-SS nicht eingetreten ist, er ist gezwungen worden, es waren die letzten Kriegsmonate, es waren sehr wirre Monate. Er versucht sich auf die Schliche zu kommen und er sagt, ich hätte mit diesem Jungen Streit gehabt heute, von meinem Wissen heute über den Holocaust und so weiter. Und ich habe ihn deshalb auch gefragt vor der Veranstaltung gestern Abend, ob dieses Buch die radikalste Sicht auf die Person von Günter Grass selbst war.

Grass: Nun, es ist der Versuch, die Person von damals als ganz jungen Menschen, als Kind, als Heranwachsender, dann als 16-, 17-, 18-Jähriger, also bis in die Zeit der Gefangenschaft hinein und dann in der Zeit später nach dem Krieg zu entdecken. Er ist ja eine sehr weit entrückte Person und der Versuch, dem näher zu kommen, macht auch deutlich, wie schwierig es ist, das zu schreiben, was man eine Autobiographie nennt. Ich hatte dieser Form gegenüber eigentlich lange ein Misstrauen. Viele Autobiographien tauchen so auf und behaupten es war so. Und nun weiß ich aus eigener Erkenntnis, jeder kann es bei sich nachprüfen, wie trügerisch die Erinnerung ist. Sie neigt dazu zu schönen, sie neigt dazu, komplizierte Dinge so zu vereinfachen, dass sie erzählbar werden, zur Anekdote werden. Und das wollte ich mitschreiben, also auch diesen schwierigen Prozess des Erinnerns.

Wesener: Sie haben viele Jahre gebraucht, auch an diesem Text gearbeitet, um diese Form zu finden, wie sie sagen. Und Sie wollten, schreiben Sie gleich im ersten Kapitel, das letzte Wort behalten. Haben Sie den Eindruck, dass Sie dies ein bisschen aus der Hand gegeben haben?

Grass: Ich habe das letzte Wort in dem Sinne, dass ich Dinge ausspreche, die ich vorher nicht ausgesprochen hatte. Das ist zum einen über die Krankheit und den sehr frühen Tod meiner Mutter, was mich sehr getroffen hat, dann bestimmte Phasen auch während meiner Zeit beim Arbeitsdienst, dann beim Militär. Ich hatte mich ja kriegsfreiwillig zur Marine gemeldet und landete dann bei der Waffen-SS, was ich damals in der Dummheit meiner jungen Jahre einfach als eine Eliteeinheit gesehen habe. Und das Erschrecken dann hinterher, als ich bei Kriegsende dann erfuhr in der amerikanischen Gefangenschaft, welche Verbrechen auf das Konto insbesondere der Waffen-SS ging - nicht nur der Waffen-SS, aber doch insbesondere. Und das hat sicher mit dazu beigetragen, dass sich das bei mir lange verkapselt hat, auch verbunden mit einer anhaltenden Scham. Verkapselt heißt nicht, dass ich es vergessen oder verdrängt habe. Es war mir immer präsent. Aber zu Papier bringen, es umsetzen, literarisch umsetzen, konnte ich es erst in dem Augenblick, in dem ich mich dazu entschlossen hatte, über mich selbst zu schreiben, umfänglich über mich selbst zu schreiben, über meine jungen Jahre zu schreiben.

Wesener: Sie suchen dafür eine literarische Form. Sie schreiben auf zwei Ebenen. Da ist diese Ich-Ebene und da ist die dritte Person, da ist dieser fremde, auch ein bisschen verfremdende Blick auf diesen jungen Günter Grass. Warum, frage ich dennoch, nicht der Mut, "ich" zu sagen auch in diesen Passagen, in denen es ja besonders kritisch gerade in Bezug auf diese eigene Biographie geht.

Grass: Das ist auch wieder in doppelter Erinnerung eine Erfahrung. Ich erinnerte mich im Schreibprozess, wie ich 1958, als ich in Paris lebte und angefangen hatte, die "Blechtrommel" zu schreiben, zum ersten Mal nach dem Krieg wieder nach Danzig fuhr. Und ich kam in diese bei Kriegsende völlig zerstörte Stadt, die wieder von den Polen aufgebaut wurde, und kam in die unzerstörte Stadtbibliothek, weil ich dort mir bestimmte Dinge recherchieren wollte, unter anderem auch über die polnische Post und über die Vorgänge bei Kriegsbeginn. Und wie ich in diesen unzerstörten Leseraum rein kam, der Stadtbibliothek, sah ich den 14-jährigen Jungen dort sitzen. Und ich sah die Distanz. Ich meine, im Alter von annähernd 80 Jahren nehme ich einen 14-Jährigen ins Verhör und sage zu ihm, wieso hast du in der Situation, als dein Onkel von den Deutschen erschossen wurde, weil er polnischer Postbeamter war, warum hast du keine Fragen gestellt. Dass der auf einmal weg war, das Thema war in der Familie auf einmal Tabu.

Wesener: Ab und zu entsteht, wie sie schreiben, "Bildsalat". Die Schnipsel verlieren sich. Man hätte natürlich, Günter Grass, als Leser im einen oder anderen gerne mehr erfahren.

Grass: Ja gut, also das gibt es. Zum Beispiel in der kurzen Phase, in der ich also als Soldat, als Panzerschütze auf der Suche nach meiner Division, die ich überhaupt nicht gefunden habe, von einem Haufen zum anderen geschoben wurde. Dann meine ersten, was man damals Feindberührung nannte, mit schrecklich vielen Toten meines Alters. Und dazwischen gibt es Phasen, in denen nichts passierte, die sich bei mir nicht festgesetzt haben in der Erinnerung. Das kennt jeder Mensch. Und es ist sinnlos über diese Phasen, da kann man nur spekulieren, da kann man einiges vermuten, absurde Dinge halten sich, plötzliche Bilder, auf einmal fällt mir ein, welche Jahreszeit, an irgendeiner Stelle habe ich Weidenkätzchen gesehen und habe die gestreichelt.

Wesener: Dieses Umherirren in den Wäldern zwischen Spremberg und Cottbus gehört ja zu den ganz starken auch literarischen Szenen dieses Buches. Und es ist, denke ich mal, ein großes Buch vor allem, Günter Grass, über die Scham. Dieses Gefühl der Scham gegenüber der Tatsache, dass sie Angehöriger waren der Waffen-SS. Wussten Sie, mit welcher Sprengkraft Sie schreiben würden?

Grass: Nein, ich hatte mir doch schon vorgestellt, dass man mittlerweile reif genug ist in unserer Gesellschaft, um darüber differenzierter urteilen zu können. Ich habe schließlich Jahrzehnte Arbeit geleistet nach dem Krieg und bin zu einer ganz anderen Person geworden.

Genau betrachtet, wenn man das Buch aufmerksam liest, sind die Vorwürfe, die ich mir mache im Rückblick, oder dem Jungen mache, ist immer die Situation, wo ich entweder geschwiegen habe oder keine Fragen gestellt habe. Da gibt es im Arbeitsdienst diesen jungen Mann, der "wir-tun-so-etwas-nicht", ein Anhänger der Zeugen Jehovas, der kein Gewehr anfasste. Aber der später abgeholt wurde und sicher im KZ gelandet ist. Wir haben keine Fragen gestellt. Wir haben das hingenommen. Und ich glaube, diese Phasen, in denen ich nicht die richtigen Fragen gestellt habe oder überhaupt nicht gefragt habe, die haben mich mehr bedrückt, als die wenigen Wochen bei der Waffen-SS, in die ich hinein geraten bin ohne mein Zutun. Das ist eine ganz andere Geschichte.

Wesener: Denn es geht, Günter Grass, in diesem Buch und mit diesem Buch, denke ich auch, um die Grundlagen eigentlich unserer politischen Kultur in der Bundesrepublik. Sie haben immer vehement dafür gestritten, dass diese Wunden sich nicht schließen und nicht schließen dürfen. Sie haben sehr zuspitzend und in der bekannten Grass'schen Art doch sehr prononciert auch polarisierend Meinung artikuliert. Würden Sie heute Ihr Urteil differenzierter fällen?

Grass: Nein, ich würde das genau so aussprechen. Wir müssen doch den Unterschied machen zwischen mir oder meiner Generation, die damals mit 15, 16 ,17 Jahren aus der Hitlerjugend raus diesen Weg ging oder zwischen Kiesinger, der Kanzler wurde und der vor 33 Parteimitglied war, als erwachsender Mensch im Auswärtigen Amt eine leitende Position hatte, sich an der Propaganda des Auswärtigen Amtes aktiv beteiligt hat. Und der Mann wird Bundeskanzler. Ich habe nichts gegen Kiesinger gesagt, solange er in Baden-Württemberg auch als Ministerpräsident, aber in dieser Position, da habe ich mich schon dagegen gewehrt.

Wesener: Diese Differenzierung, die würden Sie aber heute doch auch machen, wenn es um Menschen geht, die vielleicht nicht in dieser prononcierten Position waren.

Grass: Nein, natürlich nicht. Diese Generation ist hineingeraten. Und trotzdem, ich schreibe das ja in meinem Buch, wir sind verführt worden, und dann kommt der Nachsatz, ich habe mich verführen lassen. Ich war ja als 15-Jähriger ein wacher Junge. Ich habe alle möglichen neugierigen Fragen gestellt deutsche Geschichte und überhaupt die Geschichte betreffend, immer ins Mittelalter zurückgehend. Bloß was die Gegenwart betraf, habe ich nicht die entscheidenden Fragen gestellt.

Wesener: Sie haben in dem Gespräch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dann zum Erscheinen dieses Buches darauf hingewiesen, dass Ihnen die Zeit, die NS-Zeit, doch viel bunter vorkam, viel weniger spießig, als die Adenauer-Zeit. Was meinen Sie dazu?

Grass: Ich habe das ja versucht zu beschreiben, in wie weit von der Hitlerjugend, insbesondere vom Jungvolk, eine Verführungskraft ausging. Diese Hitlerjugend war antibürgerlich ausgerichtet. Sie machte keine Klassenunterschiede. Die Nachkriegszeit wirkte auf mich in dem Sinne spießig und zurückgenommen. Das ist nur einfach mal eine Feststellung. Aber die Verführungskraft ging in dieser Zeit in meinen jungen Jahren eben von dieser Ideologie aus. Das soll für mich kein Freispruch sein oder so etwas, nur eine Feststellung. Es hat keinen Sinn, das im Nachhinein zu verniedlichen.

Wesener: Hoffen Sie, nach den ersten Wochen, seit dieses Buch auch bei Lesern ist, auf eine humanisierende Wirkung dieses Buches?

Grass: Ich habe im Verlauf der letzten Wochen, die nicht einfach für mich waren, im zunehmenden Maße Zuschriften bekommen, die mich gestärkt haben. Und in dem Augenblick, in dem das Buch dann da war und Leser fand, begann auch die Differenzierung. Und ich hoffe, dass das anhält. Und was ich auch aus vielen Briefen heraus gelesen habe, dass sich viele Leute der älteren Generation durch das Buch angestoßen, angefangen haben in ihrer Familie über die Kriegszeit zu erzählen, was sie vorher nicht getan haben. Wenn das Buch nebenbei, neben dem, was es literarisch bewirken kann, auch noch diesen Anstoß gibt, bin ich sehr froh darüber.

Wesener: Beim Häuten der Zwiebel, Sie sprachen schon von den Metaphern der Zwiebel, aber auch vom Bernstein, dem Talisman aus dem Schreibpult, den Sie immer wieder zu Rate ziehen und auch bemühen. Was sagt der Bernstein in Bezug auf die letzten Wochen?

Grass: Der Bernstein bewahrt Vergangenes. Das ist die noch brandneue Gegenwart, mit der ich so rasch nicht fertig sein werde. Auch da brauche ich eine gewisse Distanz dazu, denn manche Reaktionen, manche Schnellurteile, die gefällt wurden, waren schmerzhaft, sind sicher aufgewogen worden durch andere und freundliche und einsichtvolle Worte. Aber Spuren hinterlässt das schon.