Sprung in den Tod

09.11.2009
Die meisten der im Buch beschriebenen 136 Todesopfer, die an der Mauer starben, wurden von Grenzsoldaten erschossen. Doch auch andere Fälle sind dokumentiert: so wie der von Ida Siekmann, die nach einem Fenstersprung in den Westen ihren schweren Verletzungen erlag.
Das erste Todesopfer an der Berliner Mauer war Ida Siekmann. Am 22. August 1961 sprang sie frühmorgens an der Bernauer Straße, wo die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin zwischen den gegenüberliegenden Häuserseiten verlief, aus dem Fenster. Vor dem Mauerbau hatte sie ohne Probleme ihre Schwester einen Häuserblock weiter im Westteil der Stadt besuchen können. Jetzt waren die Haustüren, die auf den West-Berliner Gehweg führten, jedoch verbarrikadiert. Ida Siekmann sprang, nachdem sie Wäsche und andere Habseligkeiten aus dem Fenster geworfen hatte, hinterher. Die West-Berliner Feuerwehr konnte nicht rechtzeitig mit einem Sprungtuch zu Hilfe kommen, wie sie es an den Tagen davor in zahlreichen anderen Fällen geschafft hatte. Die 59-jährige Frau starb an ihren schweren Verletzungen noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

Das letzte Todesopfer war Winfried Freudenberg. Er hatte am 8. März 1989 versucht, die Sektorengrenze mit einem selbstgebauten Gasballon zu überqueren. Er stürzte ab und war sofort tot.

Die meisten der im Buch beschriebenen 136 Todesopfer, die zwischen 1961 und 1989 an der Mauer starben, wurden jedoch von Grenzsoldaten erschossen. Nach umfangreichen Recherchen haben Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke die Todesopfer ermittelt und in kurzen Texten ihre Lebensläufe aufgeschrieben. Die Quellen- und Materiallage ist unübersichtlich, viele Unterlagen mussten mit großer Vorsicht ausgewertet werden, da sie manipuliert oder unvollständig sind. Und die West-Archive waren unvollständig, da sie vor 1989 an viele Informationen nicht herankamen.

Staatsanwaltliche Ermittlungen und Strafprozesse nach der Wende haben dann in vielen Fällen Klarheit darüber verschafft, wie die Flüchtlinge getötet wurden. Hertle und Nooke dokumentieren das grausame Geschehen, das hinter dem lapidaren Satz in den amtlichen Berichten verborgen ist: "Er machte von der Schusswaffe Gebrauch." Wenn Flüchtlinge nicht oder noch nicht tot waren, wurden sie in Kübelwagen auf offener Ladefläche abtransportiert. Wenn sie starben, verfügte allein die Stasi über die Leichen, bis zur Verbrennung. Die Angehörigen bekamen die Opfer nicht zu sehen. Sie mussten in der Regel einer anonymen Urnenbestattung zustimmen.

Vor allem die persönlichen Gespräche, die mit Angehörigen und Freunden der Opfer geführt wurden, haben Erkenntnisse über die Beweggründe und Lebensumstände der Getöteten gebracht. So hat jede der 136 Biografien eine eigene, oft ergreifende Geschichte. Die Autoren schreiben im Präsens, in klarer, nüchterner Sprache.

Die Biografien machen den Hauptteil des Buches aus. Hinzu kommen Berichte über politische und öffentliche Reaktionen, die durch die Todesschüsse an der Mauer ausgelöst wurden. Und über Menschen, die nicht an der Mauer starben, sondern auf andere Weise Opfer der Teilung Deutschlands wurden. So werden zwei Fälle dokumentiert, in denen Reisende an den Grenzübergängen kontrolliert und einem Verhör unterzogen wurden, bei dem sie einen Herzinfarkt erlitten und starben. Diese Fälle sind strafrechtlich nicht relevant, zeugen aber von der Atmosphäre der Gewalt und der Angst, die an den Grenzen oft vorherrschte. Grenzsoldaten gehörten übrigens auch zu den Todesopfern an der Grenze. Sie wurden von Fahnenflüchtigen, Kameraden, Flüchtlingen, einem Fluchthelfer oder einem West-Berliner Polizisten im Dienst getötet. Auch ihre Lebensläufe finden in der Dokumentation Platz.

Ein hervorragend recherchiertes Handbuch, das in seiner Sachlichkeit und Gründlichkeit einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufklärung über die Folgen des Mauerbaus darstellt. Mit diesem Buch bekommen die vielen Mauertoten endlich ein Gesicht.

Besprochen von Annette Wilmes

Hans-Hermann Hertle, Maria Nooke: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989 – Ein biographisches Handbuch.
CH. Links Verlag, Berlin 2009
528 Seiten, 24,90 Euro