Spröde mit lyrischen Einsprengseln

29.07.2010
"Algerische Skizzen" von Pierre Bourdieu kann außerhalb von Spezialistenkreisen nur als harter Brocken rubriziert werden. Der Leser tut gut daran, sich vorab über die koloniale Geschichte Algeriens zu informieren, dann aber kann er sich auf ein hoch interessantes Buch einlassen.
"Algerische Skizzen" von Pierre Bourdieu kann außerhalb von Spezialistenkreisen nur als harter Brocken rubriziert werden. Der Leser tut gut daran, sich vorab über die koloniale Geschichte Algeriens zu informieren, dann aber kann er sich auf ein hoch interessantes Buch einlassen.

In Algerien wurde Pierre Bourdieu, der eigentlich als Philosoph Karriere machen wollte, zum Ethnologen und Soziologen. Nachdem er 1955 seinen Militärdienst westlich von Algier in der Kabylei ("Gegend der Volksstämme") angetreten hatte, lernte er die trostlose Lage der Berber im Kolonialsystem kennen.

Er begann Untersuchungen über die innere Verfasstheit der traditionellen Gesellschaft und deren Verwandlungen, die er "Umwertung aller Werte" nannte. Bereits 1959 erschien sein Aufsatz über den "Zusammenstoß der Zivilisationen".

Mit eben dieser Arbeit beginnt nach der 70-seitigen Einführung der Anthropologin Tassadit Yacine der Band "Algerische Skizzen", der alle wissenschaftlichen Algerienschriften Bourdieus präsentiert. Der Leser lernt Bourdieus Ethnosoziologie im Moment der Geburt kennen, und er wird zurückversetzt ins zeitgenössische Algerien, in dem nach 130 Jahren französischer Kolonialherrschaft der verlustreiche Befreiungskrieg ausbricht (1954-1962).

Die in Massen gewaltsam umgesiedelten Berber beschreibt Bourdieu mit Sympathie, jedoch stets skrupulös, methodisch wach und selbstreflexiv. Man spürt, dass hier ein kritischer Linker ethnologische Folklore strikt vermeiden will - ebenso wie den unpräzisen Diskurs der Pariser Star-Intellektuellen um Jean-Paul Sartre. Bourdieu interessiert sich für den Alltag der neuen "Subproletarier" und ihre Probleme mit der zunehmend ökonomisch ausgerichteten Organisation von Alltag und Arbeit, für ihre Wohnungen, ihre Ernährung, ihre Umgangsformen, ihr Freizeitverhalten.

Spröde, wenn auch mit lyrischen Einsprengseln, entwickelt Bourdieu in seinem "Labor" Algerien die Instrumente der später sogenannten "Theorie der Praxis", mit denen er auch die französische Gesellschaft sezieren wird. Zart keimen spätere soziologische Leitbegriffe wie "Feld", "symbolisches Kapital" und "Habitus". Am Ende des Buches blickt Bourdieu nach Jahrzehnten auf die "algerische Erfahrung" zurück, indem er das voll entfaltete Vokabular benutzt.

Dass Bourdieu auch mitreißend agitieren konnte, zeigt sein Aufsatz "Revolution in der Revolution" von 1961, in dem der Krieg als "ein Teil des kolonialen Systems und der Augenblick seiner Wahrheit" gebrandmarkt wird. Bourdieu gibt sich als der engagierte, zur Parteilichkeit willige Denker zu erkennen, der er bleiben wird. Gespräche über die Dichtung der Kabylei, Gedanken zur Fotografie – die Bourdieu schätzte und nutzte – und anderes bringen dem Leser Bourdieu als Person näher.

Dennoch kann "Algerische Skizzen" außerhalb von Spezialistenkreisen nur als harter Brocken rubriziert werden. Man tut gut daran, sich vorab über die koloniale Geschichte Algeriens zu orientieren und muss Lust auf die feinen Unterschiede soziologischer Welterkenntnis mitbringen. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, wird man hineingezogen in die schmerzhaften Prozesse - Bourdieu spricht von "sozialer Vivisektion" –, in denen sich Kapitalismus und Moderne Nordafrika Untertan machen. Und man lernt: "Von den Dingen anders zu berichten heißt, andere Dinge zu berichten."

Besprochen von Arno Orzessek.

Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Tassadid Yacine, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 523 Seiten, 32,90 Euro