Sprache in der Coronakrise

Wie Worte das Denken prägen

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Eine Illustration zeigt eine leere Comic-Sprechblase.
Der Berliner Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch beklagt eine gewisse Sorglosigkeit, mit der Begriffe in den Diskurs geworfen werden. © imago images / Panthermedia / studiostocks
Anatol Stefanowitsch im Gespräch mit Gabi Wuttke · 23.03.2020
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Körperliche Distanz statt Social Distancing: Zu diesem Sprachgebrauch ruft der Schriftstellerverband PEN auf. Zu Recht, sagt der Linguist Anatol Stefanowitsch. Auch andere Begriffe, die in der Coronakrise verwendet werden, findet er problematisch.
Gabi Wuttke: Abstand halten ist das Gebot der Stunde, aber "Social Distancing", die soziale Distanz, verkehrt, was wichtig ist und gehört deshalb nicht in die Münder, vor allem nicht die von Politikern und Journalisten. Das findet der deutsche PEN. Die Schriftstellervereinigung will ausdrücklich nicht jede Wort auf die Goldwaage legen, aber anmerken, den differenzierten Begriff "körperliche Distanz" zu nutzen, sei wichtig und richtig, um zu unterstreichen, wie wichtig die soziale Nähe von Kooperation und Verantwortung füreinander ist, warum Sprache auch jetzt weder verlottern noch unscharf sein sollte.
Den Berliner Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch habe ich gefragt, ob er die Warnung teilt. Hat der PEN recht?
Anatol Stefanowitsch: Er hat sicher recht, denn wir sind ja mit einer ganz neuen Situation quasi konfrontiert, die wir trotz einer kleinen Vorwarnung gar nicht kommen sehen haben und die uns wirklich so massiv überrollt hat, dass wir auch sprachlich gar nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen. In dieser Überwältigung haben wir eine ganze Reihe von Phrasen ganz schnell in unseren Alltagsgebrauch genommen, über die wir gar nicht gut nachgedacht haben und über die wir sicher diskutieren müssen, weil die uns natürlich jetzt ganz bestimmte Perspektiven auf das Thema vorgeben .

"Begriff des Social Distancing hat eine sehr lange Geschichte"

Wuttke: Ist das mal wieder ein schlecht ins Deutsche übersetzter Anglizismus oder steckt genau das drin, was auch von Ihnen kritisiert wird?
Stefanowitsch: Ich glaube, der ist nicht schlecht übersetzt. Eigentlich ist der englische Begriff an sich schon problematisch. Also dieser Begriff des Social Distancing, der hat eine sehr lange Geschichte, der wurde aber immer verwendet in dem, was man als wörtliche Bedeutung vermuten würde, nämlich in der Idee einer gesellschaftlichen Abgrenzung.
Und als dann 2006 die Vogelgrippe kam, hat die amerikanische Gesundheitsbehörde plötzlich angefangen, diesen Begriff des Social Distancing für das zu benutzen, für das wir es jetzt auch benutzen, nämlich für den Rückzug in die eigenen vier Wände, für das Abstandhalten, für die körperliche Distanz.
Dann hat sich der Begriff jetzt plötzlich sowohl im Englischen als auch im Deutschen in dieser Bedeutung so fest in unsere Sprache integriert - in so kurzer Zeit, dass wir jetzt wirklich mal innehalten und uns klarmachen müssen, was da eigentlich für eine Idee drinsteckt: Nämlich die Idee, dass wir das, was uns als Gesellschaft zusammenhält, dass wir das irgendwie aufgeben müssen, während das ja genau, wie der PEN auch sagt, das ist, was wir nicht aufgeben dürfen in dieser Zeit.

"Es fällt eine gewisse Sorglosigkeit auf"

Wuttke: Welche Begriffe fallen Ihnen in diesem Zusammenhang noch unangenehm auf?
Stefanowitsch: Es fällt erst mal eine gewisse Sorglosigkeit auf, mit der Begriffe so in den Diskurs reingeworfen und dann auch aufgegriffen werden. Natürlich haben wir es im Moment mit einer großen Begriffsdiskussion darüber zu tun, ob wir eine Ausgehsperre oder ein Ausgehverbot oder ein Kontaktverbot eigentlich erlassen sollten oder ob das eigentlich erlassen worden ist und was es bedeutet, wenn es erlassen worden wäre.
Das sind ja auch alles so Wörter, die im alltagssprachlichen Gebrauch erst mal gar nichts bedeuten. Also die müssen ja dann durch Verwaltungsordnungen erst mal mit Bedeutung gefüllt werden, aber in unseren Köpfen lösen die natürlich auch gleich Bilder aus. Also die Idee einer Ausgangssperre oder eines Ausgangsverbots, die richtet sich auch wieder auf eine bestimmte Sache, nämlich wir sollen unser Haus nicht verlassen, also wir dürfen das nicht. Das ist eine Sperre oder ein Verbot.

Ausgangssperre, Kontaktverbot oder Berührungsverbot?

Die interessante Frage ist ja, mit welcher rechtlichen Grundlage dieses Verbot überhaupt erlassen wurde, aber sprachlich stellt sich das als eine unwiderrufliche Tatsache dar: Wir dürfen jetzt nicht mehr nach draußen. Beim Kontaktverbot ist es etwas besser, da dürfen wir nach draußen, wir dürfen nur nicht in Kontakt mit Leuten treten, und das ist eigentlich auch komisch, und auch in dem Wort Kontakt steckt eigentlich so eine Art Doppeldeutigkeit drin, die wir beim Social Distancing ja auch haben.
Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch spricht am 06.05.2014 bei einer Keynote auf der Internetkonferenz Republica in Berlin. Auf der Veranstaltung werden vom 06.05.2014-08.05.2014 Vorträge über Themen rund um das Internet gehalten. 
Sich immer mal wieder von der Sprache zu distanzieren, dazu rät der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch.© dpa / Britta Pedersen
Also, Kontaktverbot ist ja hier gemeint im Sinne von körperlichem Kontakt, aber wir benutzen das Wort Kontakt natürlich auch genau für den gesellschaftlichen Kontakt, für das Telefongespräch, das wir hier gerade führen, für die Skype-Gespräche vielleicht mit den Großeltern oder mit anderen Verwandten, die man gerade nicht sehen kann. Deshalb ist auch das Wort Kontaktverbot hier in seiner viel zu breiten Bedeutung eigentlich auch schlecht.
Also, wir sollten auch hier wieder sagen, es geht um eine Einschränkung von Berührungen eigentlich. Eigentlich sollten wir es Berührungsverbot nennen vielleicht oder Jemandem-zu-nahe-kommen-Verbot oder sowas in der Art. Aber wir haben gar keine Sprache dafür, weil wir irgendwie gar nicht damit gerechnet haben, wie schnell sich unser Land hier verändern kann, was unseren alltäglichen Umgang miteinander angeht.
Das sind wirklich Vokabeln, als ob wir sprachlich schon den Notstand ausgerufen hätten hier, obwohl wir ihn rechtlich noch gar nicht ausgerufen haben. Wie wir uns sprachlich im Prinzip auch hier an diese unglaubliche Brutalität so schnell gewöhnen, das macht mir auf jeden Fall natürlich Sorgen, denn die Art, wie wir über Dinge sprechen, die beeinflusst immer auch die Art, wie wir darüber nachdenken.

Negatives Framing nicht mit Beschönigungen ersetzen

Wuttke: Was kann denn Sprache jetzt positiv leisten, ohne euphemistisch zu sein? Haben Sie eine Idee?
Stefanowitsch: Mein großer Wunsch ist in der Tat immer, dass man auf diese negativen Framings nicht mit euphemistischen Framings reagiert. Das wäre auch keine sinnvolle Strategie. Sondern dass wir im Prinzip genau das tun, was wir jetzt gerade tun. Dass wir uns nämlich immer klarmachen: In jeder Versprachlichung eines Themas steckt eine bestimmte Perspektive. Das müssen wir erkennen, und dann müssen wir uns darüber austauschen können.
Diesen Freiraum lässt uns die Sprache. Sie zwingt uns ja nicht in eine bestimmte Spur. Sie zieht uns, sie verleitet uns immer in so eine bestimmte Spur, aber sie zwingt uns da nicht hinein. Wir können uns immer lösen und können darüber reflektieren und können uns klarmachen: Was gibt uns hier nur die Sprache vor, und was ist vielleicht tatsächlich das, was an Wirklichkeiten darunterliegt?
Deshalb würde ich sagen, ja, man kann sich in der Tat überlegen, ob man dieses Wort des Social Distancing oder des Vermeidens der sozialen Kontakte, wie das auch Angela Merkel eine ganze Zeit lang immer in ihren Ansprachen gesagt hat, das kann man überdenken. Sie hat es ja in ihrer letzten Ansprache auch getan und hat plötzlich gesagt, es geht ja gar nicht darum, soziale Kontakte zu vermeiden.
Die sozialen Kontakte sind ja eben besonders wichtig, und genau die Tatsache, dass sie genau das tun konnte und dass wir alle diesen Perspektivwechsel dann vollziehen können und sagen können, wir haben uns hier sprachlich in etwas reinmanövriert, das uns eventuell an der falschen Stelle Angst macht.

Sich regelmäßig von der Sprache distanzieren

Das ist, glaube ich, das, was notwendig ist. Uns immer mal wieder von der Sprache zu distanzieren und einen Schritt zurückzutreten und zu sagen, vielleicht habe ich jetzt spontan kein besseres Wort. Wobei sowas wie körperlicher Abstand bietet sich ja an als Alternative.
Aber selbst, wenn ich jetzt keinen besseren Begriff habe, dass ich einfach sage: Gut, aber ich darf mich von diesem Begriff trotzdem nicht verleiten lassen, in bestimmte Richtungen zu denken, die nicht produktiv sind, die vielleicht Angst auslösen, die vor allen Dingen eventuell nicht die richtigen Handlungen nach sich ziehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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