Spitze Satire mit fulminantem Finale

07.10.2010
Mit "Solar" hat Ian McEwan eine sehr unterhaltsame Satire über Intrigen und Betrügereien des Wissenschaftsbetriebes verfasst. Die Hauptfigur, das egomanische Ekelpaket eines Nobelpreisträgers der Physik, wächst einem beim Lesen eher wider Willen ans Herz.
Gäbe es eine Galerie unangenehmer Figuren der Literatur, hätte Michael Beard, der Held in Ian McEwans neuem Roman "Solar", alle Chancen, dort sofort aufgenommen zu werden. Obwohl er als Nobelpreisträger zu den Stützen der bürgerlichen Gesellschaft zählen sollte, machen ihn seine charakterlichen Defizite zu einem Ekelpaket, das rücksichtslos eigenes Wohlbefinden befördert.

Die Zeiten, da er in Stockholm als physikalisches Genie ausgezeichnet wurde, liegen fast zwei Jahrzehnte zurück. Da sich grandiose Gedankenblitze partout nicht mehr einstellen wollen, begnügt sich Beard damit, als Frühstücksdirektor gut subventionierter Institute zu fungieren, horrende Vortragshonorare einzustreichen und Bekanntschaften zu machen, die seinem ausgeprägten Sexualtrieb entgegenkommen. Als der Roman im Jahr 2000 einsetzt, geht seine fünfte Ehe in die Brüche. Gattin Patrice hat von den Kapriolen ihres erotisch leicht entflammbaren Mannes genug und lässt sich gleich mit zwei Verehrern ein: Mit dem rustikalen Handwerker Tarpin und dem Nachwuchswissenschaftler Aldous, der an Beards Institut arbeitet.

Wie häufig in McEwans Romanen fällt das gesellschaftliche und psychische Gefüge, in dem sich die Figuren bewegen, durch eine katastrophale Wendung in sich zusammen. Bei einem Disput mit Beard stürzt Aldous unglücklich und kommt zu Tode – ein Ereignis, das der gehörnte Nobelpreisträger gedankenschnell ausnutzt. Er stellt Tarpin, den noch verbleibenden Liebhaber seiner Frau, als Schuldigen dar und bringt ihn hinter Schloss und Riegel, ohne dabei die geringsten Gewissensbisse zu empfinden.

Ian McEwan hat mit "Solar" einen sehr komischen, in einem fulminanten Finale endenden Roman geschrieben, der mit spitzer satirischer Feder Machtspiele, Intrigen und Betrügereien des Wissenschaftsbetriebs aufspießt. Als Beard, der für das Thema Klimawandel nur ein müdes Lächeln aufbringt, und Steuergelder mit dem Bau sinnloser Windturbinen verschleudert, in Aldous' Hinterlassenschaft vielversprechende Projektideen zur künstlichen Fotosynthese findet, macht er sich diese Gedanken zu eigen und entwickelt ein Großprojekt in New Mexico, das ihm frisches Renommee und frisches Geld eintragen soll. Obwohl McEwan damit ein mehr als ungünstiges Licht auf die aktuelle Energiepolitik wirft – der Roman endet im Jahr 2009 –, beruht die Stärke von "Solar" weniger auf diesem Impuls.

Das Buch, das trotz sprachlicher Eleganz nicht die Bedeutung von McEwans großen Romanen "Abbitte" oder "Saturday" hat, lebt vor allem von seiner männlichen Hauptfigur - die einem spätestens nach 200 Seiten wider Willen ans Herz wächst. So maßlos, wie die Welt mit ihren Ressourcen umgeht, so ungezügelt gibt Beard seinen Leidenschaften nach. Frauen betrügt er nach Strich und Faden; Alkohol trinkt er in Unmengen, und zum Frühstück bevorzugt er Steakplatten – eine Essgewohnheit, die seinem Körper fassähnliche Konturen gibt und sein Kinn zum "Truthahnlappen" werden lässt.

Das alles ergibt eine hochunterhaltsame Mischung, und was Beard auf einer Expedition nach Spitzbergen widerfährt, wird künftig in jeder Anthologie "Komische Stellen in der Weltliteratur" Aufnahme finden. Diese Szene, in der Beard einem dringenden menschlichen Bedürfnis nachgeht und sein bestes Stück - ... ... lässt sich in einer Rezension freilich nicht nacherzählen.

Besprochen von Rainer Moritz

Ian McEwan: Solar
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Diogenes Verlag, Zürich 2010
402 Seiten, 21,90 Euro
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