Spielzeiteröffnung in der Mailänder Scala

Giuseppe Verdis "Giovanna d'Arco" in Spielfilmlänge

Anna Netrebko mit Francesco Meli in "Giovanna d'Arco" an der Mailänder Scala
Anna Netrebko mit Francesco Meli in "Giovanna d'Arco" an der Mailänder Scala © Brescia-Amisano / Teatro alla Scala
Von Bernhard Doppler · 07.12.2015
150 Jahre nach der Uraufführung steht Giuseppe Verdis "Giovanna d'Arco" nun erstmals wieder auf dem Programm der Mailänder Scala. Die Sopranistin Anna Netrebko in der Rolle der heiligen Johanna und Stardirigent Richard Chailly erhielten stürmischen Applaus.
"Giovanna ist wieder zurück in der Stadt!" ist auf vielen Plakaten in Mailand zu lesen. Tatsächlich ist Verdis Oper über die heilige Jungfrau von Orleans zwar 1865 in der Scala uraufgeführt, aber dort nie wieder gespielt worden. An der musikalischen Qualität kann es kaum liegen, diese frühe Oper Verdis ist wohl von den vielen späteren Erfolgen Verdis, von "Rigoletto" angefangen, einfach verdrängt worden. Doch auch ohne diesen musikhistorischen Hinweis auf eine musikalische Wiedergutmachung für Giovanna ist die – im Dezember ja sehr späte – Spielzeiteröffnung am Tag des Mailänder Stadtheiligen St. Ambrosius ein großes nationales Ereignis.
Noch ehe die Oper beginnt, erhebt sich das Publikum in der blumengeschmückten Ehrenloge unter anderen Ministerpräsident Mattheo Renzi zur Nationalhymne. Zwar waren wegen der Pariser Terroranschläge die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt und das Gebiet um die Oper weiträumig abgesperrt worden (so dass Gegendemonstrationen gegen Krieg oder die Einsparungen in der Kulturpolitik auf einen kleinen Raum abgedrängt waren), zwar waren 700 Polizisten und sogar Scharfschützen im Einsatz und beim Einlass wurde man mit Detektoren abgetastet, doch dem Gewühle und Geschiebe in dem riesigen Opernhaus und der heiter aufgeregten Stimmung tat das keinen Abbruch. Wohl mehr als hundert Fotografen und Journalisten scharten sich um die Prominenz im Publikum, die die Eintrittskarten von 2400 Euro bezahlt hatten. Oper als gesellschaftliches Ritual der High Society.
Vielleicht ist, wenn "Giovanna d'Arco" wieder in der Stadt ist, auch 2015 eine leichte Re-Italianisierung, zu konstatieren. Der Italiener Richard Chailly, ewiger Kronprinz in Mailand, löst mit dieser Eröffnung Daniel Barenboim als "Maestro di capella" ab. Chailly hatte "Giovanna d'Arca" bereits 1989 in Bologna (Regie damals Werner Herzog) dirigiert und schon damals vorgeführt, welche betörenden dramatischen, manchmal auch geradezu grotesken Effekte er aus Verdis Musik herauszuholen vermag, wenngleich er – ein dummes Laster der Scala – auf Lautsprecherverstärkung nicht ganz verzichtet und 2015 auf bedächtigere Tempi setzt.
Zentrum des italienischen Opernrituals ist aber der Star. Und auch "Giovanna d'Arco" ist so auch von Verdi (1865 für die tschechische Sopranistin Theresa Stolz) komponiert. Nun wurde Anna Netrebko gefeiert – durchaus zu Recht, auch wenn man weiß, dass man bei ihr etwas forcierte Höhen in Kauf nehmen muss. Sie macht es durch mühelosen Wechsel in tiefe Register und starke Bühnenpräsenz wett, und über ihren politischen Einsatz für Putin oder für "Neurussland" in der Ostukraine sah man allgemein hinweg.
Prototyp einer italienischen Oper
In der Rolle der heilige Giovanna war diese Diva schon erprobt: 2013 hatte sie der Mailänder Intendant Alexander Pereira, damals Leiter der Salzburger Festspiele, in Salzburg in einer konzertanten Aufführung auftreten lassen, auch hier sang Netrebko gemeinsam mit dem sehr beeindruckenden geschmeidigen Tenor Francesco Mela als Carlo VII. Den Dritten im Bunde, Giovannas Vater Giacomo, gab routiniert der junge Bariton Devid Cecchone. Dass er erst in letzter Minute für Carlos Álvarez eingesprungen war, merkte man nie.
Dass "Giovanna d'Arco" als Prototyp einer italienischen Oper gelten kann, unterstreicht auch die Inszenierung des Duos Moshe Leiser und Patrice Caurier. Schon dass sie fast statuarisch eher lebende Bilder (Bühnenbild: Christian Fenouillat, Light-Design: Christophe Frey) als dynamische Handlung vorführen, kommt italienischen Regiegepflogenheiten nahe. Leisler und Caurier siedeln die Jungfrau von Orleans nicht im französischen Mittelalter an, sondern in einem Zimmer des 19. Jahrhunderts, in der die bettlägerige, psychisch labile Johanna von sexuellen, politischen und religiösen Träumen und Fantasien heimgesucht wird.
Der schwache König Carlo VII, eine Fantasiefigur, ganz in Gold – nicht nur Helm und Rüstung, auch das Gesicht. Oft öffnen sich die Wände und bedrängende Chormassen erscheinen mitten im Zimmer oder am Sims: Krieger und aufgeregtes Volk, teilweise mittelalterlich gekleidet, aber auch Teufel und Engel: Verdis "innere Stimmen". Um Engländer und Franzosen geht es in diesen psychischen Schlachten eines jungen Mädchens weniger. Die surrealen Bilder, die dabei entstehen, entsprechen durchaus Verdi. Auch er und sein Textdichter Temistocle Solera haben Schillers Vorlage, die teilweise wörtlich zitiert ist, weiter verformt, in dem sie die für sie zentrale Figur des Vaters von Johanna dazu gefügt haben. So wie, um nur zwei Beispiele zu nennen, Amnoraso und Aida oder Rigoletto und Gilda, machen diese sturen, aber besorgten Verdi-Opern-Väter alles nur noch schlimmer!
Oper also als Ritual um ein gesellschaftliches Opfer: um eine kranke heilige Diva. Im Finale – schon tot geglaubt – singt Johanna sogar noch sterbend. Dass "Giovanna d'Arco" als Mailänder Eröffnungszeremonie gut funktionierte (elf Minuten Applaus wurden gemessen! Keine Buhs, wie meist sonst), verdankt sie vielleicht auch ihrer bequemen Kürze. Das Mailänder Ritual hatte diesmal lediglich Spielfilmlänge.
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