Spielraum kleiner Eliten

24.08.2012
Berühmt und zum Helden der rechten Szene der 20er-Jahre wurde Ernst Jünger durch sein Kriegstagebuch "In Stahlgewittern". Zu den Nationalsozialisten hielt er aber unmissverständlich Distanz. 1951 erschien sein Essay "Der Waldgang" - jetzt in ungekürzter Lesung als Hörbuch erschienen.
"Man kann sich jedoch nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird ... Immer noch liegt der Dunst der Schinderhütten in der Luft."

Schinderhüttendunst - der lag 1951, als Ernst Jünger den "Waldgang" verfasste, in der Tat noch in der Luft. Es war der Dunst der NS-Diktatur und des Gulag-Kommunismus. Furcht ist für Jünger das Grundgefühl der Epoche.

Der Staat wird als allmächtiger Leviathan gedacht. Jünger beschäftigt sich so eingehend wie erhellend mit der Dynamik im Gefüge von Mehrheit und Minderheit, dem heiklen Verhältnis des Einzelnen zu Gesellschaft und Staat. Eingangs analysiert er - als archetypisches Modell - den Wahlakt in totalitären Staaten. 98 Prozent Ja-Stimmen, das ist für ihn mehr als eine politische Farce.

"Die Propaganda ist auf einen Zustand angewiesen, in dem der Staatsfeind, der Klassenfeind, der Volksfeind zwar durchaus aufs Haupt geschlagen und schon fast lächerlich geworden, doch immerhin noch nicht ganz ausgestorben ist. Die Diktaturen können von der reinen Zustimmung nicht leben, wenn nicht zugleich der Hass und mit ihm der Schrecken die Gegengewichte gibt. Nun würde aber bei 100 Prozent guter Stimmen der Terror sinnlos werden; man träfe nur noch Gerechte an. Das ist die andere Bedeutung der zwei Prozent."

Es handelt sich sozusagen um Saboteure mit dem Stimmzettel. Zwei oder eher ein Prozent der Bevölkerung - das ist in etwa auch die Quote potenzieller Waldgänger. Der "Waldgänger" ist Jüngers dritte mythische Figuration, nach dem "unbekannten Soldaten" und dem "Arbeiter". Der Waldgänger ist der Vereinzelte, der sich von Vernichtung bedroht sieht, aber den Fatalismus überwindet und dem Leviathan mit List und Subversion entgegentritt.

" Was seinen Ort betrifft, so ist Wald überall. Wald ist in den Einöden wie den Städten, wo der Waldgänger verborgen oder unter der Maske von Berufen lebt.""

Ernst Jünger ist einer der wichtigen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts - doch bisher noch nicht zu Hörbuchehren gekommen. Von daher leisten der Verlag und der Vorleser Thomas Arnold hier Pionierarbeit. Prägend ist auch für den "Waldgang" Jüngers Lieblingsmotiv des Ausharrens in auswegloser Lage, das schon das frühe Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" kennzeichnete. Daraus resultiert ein heroischer, manchmal herrischer Individualismus. Der Waldgang markiert für Jünger einen Freiheitsspielraum kleiner Eliten. Und doch ist das nicht einfach "elitär", denn an anderer Stelle heißt es:

""Wer Katastrophen entronnen ist, der weiß, dass er es im Grunde der Hilfe von einfachen Menschen verdankt, über die der Hass, der Schrecken, der Automatismus der Gemeinplätze nicht Macht gewann. Sie widerstanden der Propaganda und ihren Einflüsterungen, die rein dämonisch sind."

Woher bezieht der Waldgänger seine Widerstandskraft? Aus metaphysischen Reservoiren, die in der modernen Gesellschaft weithin zugeschüttet wurden. Der Bezug auf überzeitliche Mächte kann gegen die zeitlichen Ausformungen der Macht mobilisieren. Das ursprüngliche Verhältnis zur Freiheit und die Bereitschaft, sie zu verteidigen, findet Jünger aber in den verschiedensten gesellschaftlichen Milieus:

"Ein Angriff gegen die Unverletzbarkeit, ja Heiligkeit der Wohnung wäre im alten Island unmöglich gewesen in jenen Formen, wie er im Berlin von 1933 inmitten einer Millionenbevölkerung als reine Verwaltungsmaßnahme möglich war. Als rühmliche Ausnahme verdient ein junger Sozialdemokrat Erwähnung, der im Hausflur seiner Mietwohnung ein halbes Dutzend sogenannter Hilfspolizisten erschoss.

Der war noch der substanziellen, der altgermanischen Freiheit teilhaftig, die seine Gegner theoretisch feierten ... Jedenfalls gehörte er nicht zu jenen, von denen Leon Bloy sagt, dass sie zum Rechtsanwalt laufen, während ihre Mutter vergewaltigt wird."

Zwar können manche harschen oder auch pathosgetränkten Sentenzen heute befremdlich anmuten. Auch Jüngers Affekt gegen die demokratische Massengesellschaft und ihre subtileren Konformitätszwänge irritiert. Viele Passagen aber erscheinen ungemein hellsichtig und auf aktuelle Lagen der politisch-gesellschaftlichen Ohnmacht übertragbar. Das Bild des Waldgängers schillert: Nietzsches freier Geist, letzte subversive Reserve des Freiheitsideals, kultivierter Dandy im Trotz gegen die Massenkultur, Wahrer der Transzendenz, Widerstandskämpfer, Partisan:

"Er schlägt sich Unwegsame, Anonyme, um wieder zu erscheinen, wenn der Feind Zeichen von Schwäche zeigt. Er verbreitet eine ständige Unruhe, erregt nächtliche Paniken ..."

"Der Waldgang" ist durch einen aphoristischen Denkstil gekennzeichnet - die geschliffenen Formulierungen kommen im Hörbuch gut zur Geltung. Bei reflektierenden sind Sprecher gefordert, die zumindest den Eindruck erwecken, sie hätten die Materie selbst durchdacht.

Thomas Arnold liest Jüngers Schrift mit erkenntnisheller Schärfe und einem süffisanten Unterton, der selbst etwas leicht Verschwörerisches oder "Waldgängerisches" hat.

Ein Hörbuch, das im Ohr bleibt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Ernst Jünger: Waldgang
Gesprochen von Thomas Arnold.
Eine CD, Edition Apollon, 2012
23,99 Euro
Mehr zum Thema