Spektakulärer Schauprozess gegen Juden

Von Dieter Wulf · 19.06.2010
Teuer erkaufte Schutzrechte können keine Leben retten – diese Erfahrung machten Juden im deutschen Reich des Mittelalters immer wieder. So auch in Berlin 1510. Eine Ausstellung in Berlin-Spandau rekonstruiert die Ereignisse vor genau 500 Jahren.
"Wir sind jetzt quasi neben dem mittelalterlichen Bergfried und dort kann man sehen, in diesem Bereich waren auch im Mittelalter jüdische Grabsteine eingemauert als Dokument sozusagen, der zeigt, dass diese Grabsteine als Baumaterial verwandt worden sind."

Andrea Theissen, die Leiterin des stadtgeschichtlichen Museums Spandau, das in der Zitadelle Spandau untergebracht ist, einem riesigen mittelalterlichen Festungsbau, deutet auf einen Stein mitten im Mauerwerk mit hebräischen Schriftzeichen.

Während des Nationalsozialismus' war die gesamte Anlage der Spandauer Zitadelle vom Militär genutzt worden. Vieles wurde umgebaut. Als man nach dem Krieg den ursprünglichen mittelalterlichen Zustand wieder herstellen wollte, stieß man im Mauerwerk auf Dutzende jüdische Grabsteine. Wie aber kam es dazu, dass die Grabsteine als Baumaterial verwandt wurden?

"Ihre Schule und Hof wurden eingezogen", heißt es dazu in der mittelalterlichen Spandauer Chronik. "Ihr Begräbnisplatz zu einem anderen Gebrauch angewendet. Die Leichensteine", so die Chronik, "sind hernach zum Festungsbau verbraucht worden". Offenbar waren Juden, die hier gelebt hatten vertrieben worden. Aber wann genau, das war lange unklar, meint Andrea Theissen:

"Einen Friedhof zu schänden in Anwesenheit der jüdischen Bevölkerung ist sehr unwahrscheinlich. Deshalb ist auch, was die zeitliche Einordnung betrifft, ist es naheliegend, also es muss auf jeden Fall, also Ende des 15. Jahrhunderts gewesen sein und wahrscheinlich doch erst nach 1510."

Denn 1510, im Sommer 1510, vor genau 500 Jahren, wurde in Berlin ein spektakulärer Schauprozess gegen Juden inszeniert. Man warf ihnen vor, eine christliche Hostie geschändet zu haben. Eine Ausstellung in der Spandauer Zitadelle zeigt jetzt, was damals passierte und erklärt die Hintergründe.

Der Kesselflicker Paul Fromm hatte im Februar 1510 in der Kirche des kleinen brandenburgischen Dorfes Knoblauch das Kästchen mit den Hostien gestohlen, erklärt der Autor Stephen Tree, der die Geschichte ausführlich recherchiert hat:

"Das war eine ganz arme Kirche. Die war so arm, dass sie keine Reliquien hatte und in armen Kirchen, wo man keine Reliquien hatte, nahm man statt der Reliquien - die waren wahnsinnig teuer -, da nahm man einfach zwei geweihte Hostien und die hat er unglücklicherweise gestohlen in einem vergoldeten Messingkästchen, was überhaupt nichts wert war."

Es dauerte einige Monate, aber im Juni wurde der Dieb gefasst. Erst behauptete er, er habe die Hostien, die in dem Kästchen gelegen hatten, gegessen. Später, unter der Folter, erklärte er dann, dass er sie an einen Spandauer Juden namens Salomon verkauft habe. Man glaubte, dass Juden mithilfe der Hostien im Geheimen den Leib Christi quälen würden. Im Mittelalter eine ganz typische Vorstellung, erklärt Stephen Tree:

"Das ist eine quasi frühmittelalterliche Legende. Das christliche Mittelalter war von einer großen Sehnsucht nach dem Kelch, nach dem Blut Christi, geprägt. Also Blut spielte eine wahnsinnig wichtige Rolle in der mittelalterlichen Vorstellungswelt und das Blut Christi als Heilsbringer, das ist unglaublich zentral."

Schnell zieht die Anklage immer weitere Kreise. Schließlich werden 51 Juden angeklagt, die unter der Folter alle gestehen, was sie nicht getan haben.

"Und es waren merkwürdigerweise genau die Leute, die 90 Prozent der Steuern, das heißt etwa ein Drittel des Staatshaushaltes, zahlen konnten. Es dokumentiert also die Reichsten. Das Vermögen dieser Leute wurde einbezogen, ging direkt an den Kurfürsten."

Der öffentliche Schauprozess fand mitten in Berlin, in der Nähe der Marienkirche, statt. Von den 51 Angeklagten starben zehn schon unter der Folter. Von den restlichen 41 ließen sich drei taufen. Einer, ein begnadeter Augenarzt, wurde offenbar noch gebraucht, so dass er diskret begnadigt wurde. Die beiden anderen wurden geköpft. Die restlichen 38 Juden am 19. Juli 1510 öffentlich auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Die Angehörigen und alle anderen Juden, die damals in der Mark Brandenburg lebten - man schätzt zwischen 500 und 1000 Menschen - wurden vertrieben.

Ähnliche Schauprozesse hatte es im Mittelalter auch anderswo in Deutschland gegeben. Dieser Prozess aber war trotzdem historisch einzigartig, betont Stephen Tree:

"Dies ist der einzige mir bekannte Prozess, Hostienschändungsprozess, der Zeit, wo von christlicher Seite in historischer Zeit, also 30 Jahre später, ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass das unbegründet war, dass das zu Unrecht erfolgt, ist diese ganze Aktion."

Denn der Kesselflicker Paul Fromm erklärte einem jungen Pfarrer in der Beichte vor seiner Hinrichtung, dass er sich all das mit den Juden nur ausgedacht hatte.

"Und dann ist dieser junge Geistliche, ist zum Bischof gerannt und hat ihm sofort gesagt, um Gottes willen stoppen Sie die Hinrichtung, die sind unschuldig, das ist bezeugt, und der Bischof Scultetus hat gesagt nein und hat ihm als sein Geistlicher Oberherr, das ging ja, er hat ihm Stillschweigen auferlegt."

Daran hielt dieser Pfarrer sich jahrzehntelang, bis dann die Reformation kam. Als Protestant berichtete er Philipp Melanchthon, einem der engsten Weggefährten Luthers, der diesen Fall 1539, knapp dreißig Jahre später, auf dem Frankfurter Fürstentag präsentierte. Und dieses offizielle Eingeständnis ihrer Unschuld sei für die Juden in Deutschland unglaublich wichtig gewesen, meint Stephen Tree:

"Es hat die Juden bestärkt, es hat das jüdische Selbstbewusstsein gestärkt. Es war ein himmlisches Wunder aus jüdischer Sicht, dass da einer der wichtigsten Männer der Gegenseite plötzlich ihre Partei ergreift und die haben das als göttliche Fügung als göttliches Eingreifen zugunsten von Israel betrachtet."

Zum Thema: Die Hompeage der Zitadelle Spandau