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Orgelwerke des norddeutschen Barock
Fast vergessene Komponisten

Die Liste an bedeutenden Komponisten zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach ist nur auf den ersten Blick etwas spärlich. Bei genauerem Hinsehen gibt es im Bereich der norddeutschen Orgelmusik viele einst berühmte und heute fast vergessene Namen zu entdecken. Diesen widmet sich der Organist Friedhelm Flamme in einer Anthologie, die beim Label CPO erscheint.

Von Klaus Gehrke | 18.04.2014
    Die Orgelpfeifen einer Kirchenorgel aufgenommen am 30.11.2012 in einer Kirche in Stadtbergen (Bayern).
    Die Komponisten des norddeutschen Barock sind in Vergessenheit geraten. (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Als der 15-jährige Johann Sebastian Bach 1700 in Lüneburg seine Schulausbildung fortsetzte, lernte er dort mit Georg Böhm, Dietrich Buxtehude und Johann Adam Reincken die wohl wichtigsten Vertreter der so genannten "norddeutschen Orgelschule" kennen. Sie faszinierten ihn derart, dass Bach fünf Jahre später einen vierwöchigen Urlaub in Lübeck um das Dreifache überzog und sich damit einen gehörigen Rüffel seines Dienstherren Johann Ernst von Sachsen-Weimar einhandelte. In der Hansestadt hat er möglicherweise auch Werke des heute eher unbekannten Komponisten Delphin Strunck gehört.
    Braunschweiger Orgelmusikmeister
    Die Lebensdaten von Delphin Strunck sind für seine Zeit beinahe rekordverdächtig: 1601 in Braunschweig geboren, hat er alle Kriegswirren und Unruhen des 17. Jahrhunderts unbeschadet überstanden und ist 1694 im geradezu biblischen Alter von 93 Jahren in der niedersächsischen Residenzstadt gestorben. Nach Stationen in Wolfenbüttel und Celle übernahm Strunck 1637 zunächst das Organistenamt an der Braunschweiger Martinikirche, das er über 50 Jahre lang ausübte, und später leitete er die Kirchenmusik an vier weiteren Pfarrkirchen der Stadt. Gemessen an seiner langen Schaffenszeit haben sich nur wenige Kompositionen erhalten. Dazu gehört auch die "Toccata ad manuale duplex", in deren Mittelteil Strunck interessante chromatische Strukturen und aparte Echoeffekte einsetzt.
    Historische Orgeln für alte Meister
    Schon seit einiger Zeit arbeitet der Organist Friedhelm Flamme für das Label CPO an einer Gesamteinspielung des norddeutschen barocken Orgelrepertoires und hat bisher zehn CDs mit Werken von Nicolaus Bruhns, Franz Thunder oder Vincent Lübeck sowie vielen anderen heute weitgehend vergessenen Komponisten vorgelegt, die er auf historischen Orgeln spielt. Für die Kompositionen Delphin Struncks wählte Flamme die um 1700 gebaute Schweimb-Orgel in der Klosterkirche zu Salzgitter-Ringelheim aus, die zu den bedeutendsten Instrumenten Südniedersachsens zählt. Von Christoph Thielemann, einem Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, stammt die 1731 gebaute und bis heute fast unverändert erhaltene Orgel in der Dreifaltigkeitskirche im thüringischen Gräfenhain. An ihr nahm Flamme die wenigen Werke von Nicolaus Adam Strunck auf, dem ältesten Sohn von Delphin Strunck, der seinerzeit als virtuoser Geiger und Opernkomponist europaweit bekannt war und 1700 in Dresden starb.
    Entdeckungen nicht nur für Kenner und Liebhaber
    Nicolaus Adam Struncks Orgelwerke sind ebenso wie die des 1697 in Lüneburg gestorbenen Organisten Christian Flor eher nur Spezialisten bekannt. Dabei hat gerade er am Aufbau der Stadt zu einem wichtigen Zentrum der norddeutschen Orgelmusik mitgeholfen - und damit indirekt auch den jungen Bach angelockt. Dem Organisten Friedhelm Flamme, der unter anderem an der Musikhochschule in Detmold unterrichtet, ist es in seiner Anthologie über die norddeutsche Orgelmusik des Barock wichtig, diese in ihrer gesamten Breite zu erfassen. Daher befinden sich auf den CDs auch Komponisten, die sehr wenig Werke hinterlassen haben und heute selbst versierten Organisten kaum bekannt sind, wie beispielsweise Johann Decker, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Hamburger Domkirche wirkte, oder Dietrich Meyer, der 1653 in Lüneburg verstarb. Von beiden ist jeweils nur ein kleines Präludium für Orgel überliefert.
    Interessante musikgeschichtliche Petitessen
    Auch von dem Dithmarscher Komponisten Marcus Olter, der ab 1653 bis zu seinem Tod 1684 als Organist am Meldorfer Dom tätig war, existiert nur ein einziges Werk für sein Instrument: eine kleine Canzon in c. Doch sowohl diese Petitesse als auch die anderen kleinen und großen Stücke der auf dieser CD versammelten eher unbekannten Meister zeigen deutlich die überaus große stilistische Vielfalt dieser Epoche zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. Sowohl Vater und Sohn Strunck als auch Flor, Decker, Meyer oder Olter haben zur Entwicklung der Orgelmusik des norddeutschen Barock beigetragen, die Bach so in ihren Bann zog und sein eigenes Schaffen beeinflusste. Man darf gespannt sein, welche musikalischen Wiederentdeckungen der engagierte Organist Friedhelm Flamme auf seiner nächsten CD präsentieren wird.
    Musik: Canzon in c
    Das war die Canzon in c von Marcus Olter, gespielt von Friedhelm Flamme auf der Thielemann-Orgel der Dreifaltigkeitskirche im thüringischen Gräfenhain. Seine CD mit den Orgelwerken von Delphin und Nicolaus Adam Strunck, Christian Flor, Dietrich Meyer, Johann Decker und Marcus Olter ist als Volume 11 der Reihe Orgelwerke des norddeutschen Barock beim Label CPO erschienen. Am Mikrofon verabschiedet sich, mit Dank fürs Zuhören, Klaus Gehrke.
    Orgelwerke des norddeutschen Barock, Vol. 11:
    Kompositionen von Delphin und Nicolaus Adam Strunck, Christian Flor, Johann Decker, Dietrich Meyer und Marcus Olter
    Friedhelm Flamme, Orgel
    CPO 777597-2