Spaghetti für alle

Von Annette Weiß · 15.10.2013
Am Brandenburger Tor in Berlin werden 1200 Menschen an einem 200 Meter langen Tisch Platz nehmen und gemeinsam Nudeln essen. Die Künstlerin Isabella Mamatis kam auf die Idee, als sie nach Spuren ihres verstorbenen Vaters suchte.
Mit dem Fahrrad ist sie gekommen aus dem quirligen Kreuzberg zum S-Bahnhof Priesterweg. Hier in der Kleingartenkolonie "Wiesengrund" hat Isabella Mamatis ihre Laube blau und weiß gestrichen. Wie auf einer griechischen Insel. Und von dort, sie war auf der inzwischen türkischen Insel Imbros auf Spurensuche nach ihrem verstorbenen Vater, hat sie die Idee zur "Langen Tafel" mitgebracht.

"Ein Gastgeber, das war ein reicher Patrone, hat dort das Dorf eingeladen, und hat gezeigt, guckt mal, ich bin nach Amerika ausgewandert, und mir geht es jetzt richtig gut, und ich lade euch jetzt alle ein zu einem großen Mahl. Und ich durfte auch an dieser Tafel sitzen."

Diese Geste hat sie berührt, sagt die 57-Jährige. Sie trägt eine unauffällige Sonnenbrille, ist elegant gekleidet - natürlich und unprätentiös. Der Garten ist ihr Refugium. Dass die S-Bahn im Fünf-Minuten-Takt vorbeirauscht, stört sie nicht. In einer Ecke der Laube steht eine Gitarre.

"Ja, ich spiele Gitarre, ich spiele Klavier, bin auch perkussiv nicht schlecht, habe in einer Band gespielt, E-Bass … aber das ist so ein Zweig meiner Persönlichkeit, der schläft, weil die Organisation der Langen Tafeln einen unglaublichen Zeitraum braucht."

Und da ist sie mitten drin in ihrem Lieblingsprojekt: der "Langen Tafel". Wie sie Alt und Jung zusammenbringen möchte, weil jeder nur noch im eigenen Zimmer hocke, vor dem Computer oder im Altersheim. Sie kennt es noch ganz anders: Sie wuchs in Hessen auf, in der Kleinstadt Braunfels an der Lahn, in den 50er-Jahren. Für eine Oma nebenan habe sie oft vom Bauern die Milch geholt – und bekam dafür Süßigkeiten und deren Lebensgeschichten erzählt, vom Zweiten Weltkrieg und den Fliegerangriffen über Gießen.

"Auf der anderen Seite aber auch, wie man sich auf dem Lande unterstützt hat. Wenn es keine Eier gab, wie man Essen getauscht hat. Wie eine Brotsuppe funktioniert hat … und dadurch habe ich historisches Wissen bekommen, das vom Alltag erzählt hat, und ich möchte, dass das unsere junge Generation dieses Wissen auch bekommt."

Dafür führt die Mutter zweier fast erwachsener Kinder Workhops in den Schulen durch, um die fünften bis zehnten Klassen auf die Gesprächsrunden mit den älteren Menschen vorzubereiten. Diese findet sie über die Zeitzeugenbörse.

"Wie so eine Geschichtswerkstatt, wo das Herz und der Verstand miteinander schwingt."

Den Oral-History-Prozess nennt Mamatis diese Begegnungen. Und die gipfeln im inszenierten Spaghettiessen an einer 200 Meter langen Tafel. 1200 Personen nehmen daran Platz.

"Also mit Teller und Besteck ist jeder herzlich willkommen, und das hat eigentlich jeder zu Hause. Und für drei Stunden sind wir dann alle gleich reich."

Die Schüler übergeben später dem Bezirksbürgermeister die aufgeschriebenen Geschichten der älteren Leute in Form einer Chronik. Mamatis setzt gezielt Schauspieler dazwischen, sie verkörpern historische Figuren wie den Rechtsanwalt oder die glücklicher Familie der 60er-Jahre. Auch Musiker sind dabei.

"Das ging beim letzten Mal so weit, da kam eine Tangotruppe, da standen Leute auf, die haben Tango getanzt. Oder so eine Frau, die machte Miniworkshops fürs Schreiben von Liebesgedichten – da war eine eigene Atmosphäre, aber was es nicht ist, es ist kein Rummel und kein eitles Theater."

Die Grenzen zwischen Publikum und Kunstwerk aufzuheben, in den Dialog zu treten, zu improvisieren, das war schon der jungen Schauspielerin Isabella Mamatis ein Anliegen. Sie hat in den 80er-Jahren mit den Regisseuren Peter Stein an der Schaubühne, mit George Tabori und Henning Rühle gearbeitet.

"Insofern hatte ich schon Väter der Kunst, die mir gezeigt haben, hey, mach das weiter, das kann nur noch besser werden."

Als Staatenlose in BRD und DDR aufgewachsen
Isabella Mamatis ist in zwei deutschen Staaten aufgewachsen. Sie war eine Staatenlose, ihr griechischer Vater und ihre deutsche Mutter hielten ihre Staatsangehörigkeit bewusst offen, denn damit konnte sie zwischen dem Osten und Westen hin- und herreisen. Mit elf Jahren verließ Isabella ihre hessische Heimat und ging zur Mutter in die DDR. Deren Vater und damit Isabellas Großvater war Ottmar Gerster, ein in der DDR ausgezeichneter Opernkomponist.
Doch in der DDR konnte die nun erwachsene Isabella ihren sehnlichsten Berufswunsch nicht erfüllen: Schauspielerin zu werden. Also ging sie nach West-Berlin und studierte da an der Hochschule der Künste.

"Und ich war dann auch im Schauspiel Frankfurt engagiert und habe viel in der traditionellen Form gespielt. Ich bin ja auch noch Coach …"

… für Human Change Management, für Führungskräfte. Die Künstlerin hat auch eine Ausbildung in Psychodrama gemacht und die Bühne für Wirtschaft und Kultur gegründet. Der Anruf kommt von einer befreundeten Lehrerin – fünf Minuten später ist sie im Garten. Beide Frauen bereiten die Workshops für die Schüler der zehnten Klasse vor, für die nächste Lange Tafel in Potsdam. Thema: Werte im Wandel der Zeit.

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