Spätosmanisches Panoptikum

05.05.2009
In ihrem Roman schildert die 1964 verstorbene Autorin Halide Edip Adivar die gesellschaftlichen Probleme, zu denen eine ungleiche Ehe in der Türkei führen kann. Das Werk erschien bereits 1935. Dennoch ist die Thematik noch immer aktuell.
Halide Adivars "Die Tochter des Schattenspielers" ist ein Bildungs- und Zeitroman, ein Sittengemälde west-östlicher Ideen und Lebensentwürfe, eingebunden in eine durchwegs fesselnde Geschichte, der es gelingt den geistesgeschichtlichen Mehrwert ganz natürlich aus dem Plot herauswachsen zu lassen. Der Urknall, aus dem heraus sich dieser Mikrokosmos der spätosmanischen Gesellschaft entfaltet, ist die Mésalliance Emines, der Tochter des strengen, nach heutigen Begriffen fundamentalistischen Imams des "Fliegenkrämerviertels" (so auch der Titel der türkischen Fassung), mit Tevfik, ihrem Kameraden aus der Koranschule, der sich mit großem Erfolg als Schauspieler und Kabarettist betätigt.

Für die Ehe mit Emine muss er seiner als ehrlos geltenden Kunst abschwören, doch während seine Frau erfolgreich den Krämerladen managet, beginnt Tevfik erneut, seiner Berufung zu frönen, karikiert in seinen Stücken den Imam und schließlich auch seine verbiesterte Frau. Es kommt zur Scheidung, und auf Veranlassung des Imams wird Tevfik in die Verbannung geschickt. Die hochbegabte Tochter der beiden, Rabia, wird vom Imam zur auch von besseren Kreisen gefragten Koransängerin ausgebildet. Sie bildet die Klammer zwischen den Welten von Sultanshof und Fliegenkrämerviertel, von Tradition und einer Moderne, die im Buch durch den jungtürkischen gesinnten Sohn des Paschas und durch den genialischen italienischen Pianisten Peregrini vertreten ist.

Neben seiner Beschreibungskunst und dem subtil die Historie aufschließenden Plot begeistert der Text vor allem durch die feinsinnige Inszenierung der west-östlichen Mentalitäten und verschiedenen gesellschaftlichen und moralischen Positionen, die bis heute die Türkei zerreißen. Verkörpert Peregrini die westliche Rastlosigkeit, so übernimmt sein Freund, der Sufi-Scheich Vehbi Efendi, den ausgleichenden, das Übermaß von Individualismus zügelnden Widerpart. Trotz seiner Vorbehalte ringt er sich schließlich dazu durch, dem (pro forma zum Islam bekehrten) Peregrini und Rabia den Segen für eine Ehe zu geben – so gegensätzlich sie veranlagt sind, können sie ihre Gefühle füreinander nicht verleugnen.

Die realistisch geschilderte kulturelle Differenz des jungen Paars sorgt dafür, dass der Spannungsbogen des Buchs bis zum Ende durchgehalten wird. Die schwangere Rabia lässt sich gegen alle ihre Instinkte von Gynäkologen untersuchen und sieht sich schließlich vor die Wahl zwischen einer Abtreibung und dem damals noch lebensgefährlichen Kaiserschnitt gestellt. Doch Adivars spätosmanisches Panoptikum umfasst noch zahlreiche weitere Figuren und Nebengeschichten, die sich alle auf eigene Weise ins Gedächtnis einprägen, von den Kindern, die in Rabias Laden die Süßigkeiten stehlen, bis zu den draufgängerischen, aber gutmütigen Feuerwehrmännern des Fliegenkrämerviertels, mit ihrem unvergesslichen Wahlspruch "Feuer löschen, Herzen brechen!"

Ebenso erstaunlich wie dieses Buch aus dem Jahr 1935 ist Halide Edip Adivar selbst. 21 Romane hat die 1964 verstorbene Autorin in ihren 80 Lebensjahren verfasst, bereits 1916 wurde ein erstes Werk von ihr ins Deutsche übersetzt. Sie war die Weggefährtin Atatürks, bis sie sich mit ihm Mitte der 20er-Jahre überwarf und nach England ins Exil gehen musste. Ihre schriftstellerische Tätigkeit war zunächst ein Teil des politischen Kampfes für eine moderne Türkei, aber schließlich auch gegen die faschistoide Modernisierungspolitik Atatürks. Wie der humanere Mittelweg auszusehen hätte, skizziert sie in diesem Roman.

Rezensiert von Stefan Weidner

Halide Edip Adivar: Die Tochter des Schattenspielers
Aus dem Englischen übersetzt von Renate Orth-Guttmann
Manesse Verlag, München 2009
592 Seiten, 24,90 Euro