„Soziologische Phantasie“ von C. Wright Mills

Die Konturen einer neuen Zeit erfassen

56:02 Minuten
Eine schwarz-weiß-Aufnahme zeigt den amerikanischen Soziologen C. Wright Mills im Gespräch mit einem Unbekannten.
Der US-amerikanische Soziologe C. Wright Mills forschte über Machtstrukturen moderner Gesellschaften. © Institute for Policies Studies
Von Robert Brammer · 11.07.2021
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Ende der 1950er-Jahre ging es dem US-amerikanischen Soziologen C. Wright Mills um einen "wahrhaft leidenschaftlichen Drang, die Welt zu verstehen". Die Lektüre seines Buches „Soziologische Phantasie“ ist auch heute noch aktuell.
Der US-amerikanische Soziologe C. Wright Mills (1916 - 1962) setzte auf das wissenschaftliche Engagement für gesellschaftliche Probleme, so der Münchner Soziologe Stephan Lessenich. Es ging ihm um die Möglichkeiten kollektiven Handelns und soziale Transformation.
Mills schrieb sein Buch "Soziologische Phantasie" in einer Zeit, in der viele in dem Gefühl lebten, "einen epochalen Wandel zu erleben", einen gesellschaftlichen Umbruch, der nicht nur soziologisch dazu aufruft, "die Konturen der neuen Epoche, an deren Beginn wir uns sehen, zu erfassen". Hier ist die Aktualität von Mills Analyse quasi mit Händen zu greifen und die Frage neu aufzuwerfen: Was bedeutet '"Soziologische Phantasie" heute?
Mills ist schon früh im Alter von nur 45 Jahren gestorben, an einem Herzinfarkt. Er war ein undogmatischer, ein nicht-marxistischer Linker. Er hatte großen Einfluss auf die frühe US-amerikanische Studenten- und Antikriegsbewegung, blieb aber zeitlebens ein wissenschaftlicher und politischer Außenseiter. Lessenich hat Mills "Soziologische Phantasie" in deutscher Sprache neu herausgegeben.

Ein Buch für die Umbrüche der heutigen Zeit

Den Herausgeber interessieren gesellschaftliche Zeitdiagnosen und utopische Gesellschaftsentwürfe gleichermaßen. "Wenn man sich die 'Soziologische Phantasie' heute anschaut, dann denkt man, das ist für heute geschrieben. Das ist nicht Stand Ende der 50er, Anfang der 60er-Jahre, sondern das ist wirklich für die Umbrüche der heutigen gesellschaftlichen Zeit geschrieben."
Der Satz von Mills: "Wir studieren die Geschichte ja gerade, um zu entdecken, welche Alternativen es heute für eine vernünftige und freie Gestaltung der Geschichte gibt." trifft für den renommierten Sozialhistoriker Jürgen Kocka den Kern soziologischen Denkens, damals, wie heute.
Er sagt über Mills: "Denn er weiß, Alternativen zu eruieren, zu diskutieren, abzuwägen, das möchte er, dass dies von Sozialwissenschaftlern getan wird, das kann man eher, wenn man die Wirklichkeit als eine sich wandelnde, verändernde auch veränderbare, ein Stück weit zu gestaltende Wirklichkeit begreift. Das war damals nicht dominant und das ist jedenfalls in der deutschen Sozialwissenschaft heute auch nicht dominant. Auch von daher ist dieses Insistieren von Mills auf der Chance über historische Reflexion eine bessere Sozialwissenschaft zu bilden auch weiter sehr aktuell, als Stachel, als Herausforderung."

Die Freiheit der Alternativen

Mills schreibt viel über Vernunft und Freiheit. Er verfügt aber über einen etwas anderen Freiheitsbegriff, als beispielsweise der politische Liberalismus der Gegenwart, wenn er analysiert: "Freiheit ist vor allem die Möglichkeit, die verfügbaren Alternativen zu formulieren und über sie zu streiten – und dann eine Wahl zu treffen. Deshalb ist die Freiheit nur möglich, wenn die Vernunft im menschlichen Leben eine größere Rolle spielt."
Für Lessenich - er ist eine Generation jünger als Kocka - brauchen wir heute einen Streit über die verschiedenen Formen von Freiheit. Denn Freiheit, das zeigt auch die Pandemie, verbindet sich ganz zentral auch mit Verantwortung, etwa anderen Menschen gegenüber, mit Einschränkungen und Veränderungen, die radikal und grundsätzlich sind.

Auch die Klimadebatte ist eine Freiheitsdebatte

Diese Einsicht verbindet die Diskussion über die aktuelle Pandemie auch mit der Klimadebatte, die auch eine Freiheitsdebatte ist. Auch deshalb wäre über die Frage zu diskutieren: Geht es heute eher um kollektive Freiheiten, um gesellschaftliche Freiheiten, um darüber zu entscheiden, wie kollektiv gelebt wird? Und bekommt der Freiheitsbegriff so einen neuen Sinn?
Dazu Lessenich: "Was zentral ist zu verstehen, und das versteht man mit Mills, dass der heutigen Zeit angemessen eigentlich eher ein Verständnis von kollektiver Freiheit ist, von gesellschaftlicher Freiheit. Nämlich, dass die Gesellschaft sich die Freiheit nehmen muss, im demokratischen Prozess, in der demokratischen Auseinandersetzung zu entscheiden, wie in Zukunft gelebt werden soll."

Mills setzt auf umfassende Demokratisierung

Zukunft entsteht aber nur dort, wo in der Gegenwart Gedanken und Handlungsräume geschaffen werden, wo es Leerstellen gibt, Brachen, kreative Freiräume, die Neues und Innovationen erst ermöglichen. Mills setzt deshalb auf eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und auf freie und vernünftige Individuen.
Freiheit, so Mills, "verlangt Zugang zu jenen Entscheidungsmitteln und Macht-instrumenten, mit denen heute Geschichte gestaltet werden kann." Es geht ihm also auch um Machtfragen, die seltsamerweise heute kaum noch gestellt werden.
Es wird künftig aber, wahrscheinlich mehr als zuvor, um diese Machtfragen gehen. Wer entscheidet, ab wann die fossilen Bodenschätze nicht mehr gefördert und genutzt werden dürfen? Oder wer kontrolliert das Wissen? Das Saatgut? Die Technologien?

Charles Wright Mills: "Soziologische Phantasie"
Springer VS, Wiesbaden 2016
348 Seiten, 46,99 Euro

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