Soziologin zur deutschen Debatte über Rassismus

"Die ständigen Ausreden bin ich leid"

29:30 Minuten
Auf Knien und mit in die Höhe gestreckter Faust bekunden Demonstrantinnen auf dem Römerberg in Frankfurt ihre Solidarität mit den Anti-Rassismus-Protesten in den USA.
Nach den Protesten in den USA gab es auch in Deutschland zahlreiche Demonstrationen gegen Rassismus, wie hier am Römerberg in Frankfurt am Main. © dpa/ Boris Roessler
Natasha Kelly im Gespräch mit Alexander Moritz · 06.06.2020
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Rassismus gelte in Deutschland meist als Problem einzelner Personen, kritisiert die Soziologin Natasha Kelly. Struktureller Rassismus werde übersehen. Sie fordert mehr Präsenz schwarzer Stimmen in der Öffentlichkeit und mehr Mittel für die Forschung.
Die Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt in den USA haben auch in Deutschland eine neue Rassismus-Debatte entfacht. Die deutsche Gesellschaft sei weiterhin geprägt von rassistischen Strukturen, zum Beispiel bei der Polizei, beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder in der Wissenschaft, kritisiert die Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin, Natasha Kelly.
Allerdings fehle es der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Politik an Problembewusstsein:
"Ich bin es langsam leid, mich an diesen Strukturen abzuarbeiten, weil wir im Prinzip seit zwanzig Jahren dieselben Debatten führen - mit dieser Gesellschaft. Und es wird nicht gehört."

Natasha A. Kelly ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin mit den Forschungsschwerpunkten Kolonialismus und Feminismus. Sie vertritt den Ansatz der Kritischen Weißseinsforschung / Critical Whiteness. Die in London geborene und in Deutschland sozialisierte Autorin, Kuratorin und Dozentin hat an Hochschulen in Deutschland und Österreich gelehrt und geforscht. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin (2010 – 2013) setzte sie sich v.a. mit der Verwobenheit von Wissen, Macht und Körper auseinander.

Rassismus werde zu sehr als Problem einzelner Personen diskutiert, die strukturelle Dimension von Rassismus würde auf politischer Ebene schlicht nicht verstanden. "Wir verändern Strukturen nicht, indem wir auf der Mikroebene - irgendwie ein paar Sachen justieren oder eine Quote einführen", sagt sie. Daran müsse sich nun endlich etwas ändern: "Die ständigen Ausreden bin ich leid."
Sie fordert, Schwarze Expertinnen und Experten mehr in die Debatte einzubeziehen sowie Forschung zu Rassismus in Deutschland und Schwarze Organisationen zu fördern.

Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Vor zwei Wochen ist der Schwarze US-Amerikaner George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis gestorben, der letzte Fall in einer beschämenden Reihe von offenbar rassistisch motivierten Polizeieinsätzen in den USA. Proteste gegen solche rassistische Polizeigewalt gibt es seit Jahren immer wieder. Doch diesmal ist etwas anders. Die Demonstrationen haben inzwischen die gesamte USA erfasst, die größten Unruhen seit den 60er Jahren sind das wohl.
Wird sich nun also endlich etwas ändern? Und was bedeuten diese Proteste in den USA für Schwarze Menschen hier in Deutschland? – Darum soll es heute gehen in Tacheles. Und darüber möchte ich sprechen mit der Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha Kelly, Forschungsschwerpunkt für Postkolonialismus und Feminismus. Schön, dass Sie hier im Studio sind.
Natasha Kelly: Hallo.
Deutschlandfunk Kultur: Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat diese Woche in einer Videobotschaft gesagt: Die massiven Proteste, die wir gerade in den USA sehen, seien auch eine Chance für die US-Gesellschaft, nämlich dass sich weiße Menschen bewusst werden, wie verheerend Rassismus eigentlich ist. Und Obama sagt auch, "dass da gerade vor allen Dingen auch viele jüngere Menschen und nicht nur Schwarze Menschen mit auf die Straße gehen, das gibt ihm Hoffnung, dass sich nun tatsächlich etwas verändert in der amerikanischen Gesellschaft". – Teilen Sie diese Hoffnung?
Kelly: Ich glaube, dasselbe gilt für Deutschland auch. Ja, ich teile seine Meinung absolut. Wenn wir es nicht versäumen, Rassismus vernünftig aufzuarbeiten und zu thematisieren, dann verpassen wir die Chance. Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Also, das ist jetzt auch so ein Moment in der Geschichte, wo sich möglicherweise der Weg des Landes USA entscheiden könnte, wie diese Gesellschaft sich weiterentwickelt, aber Sie haben auch angesprochen, Deutschland trifft das ja genauso eigentlich?
Kelly: Auf Deutschland trifft das genauso zu, ja, unabhängig davon, dass wir natürlich sowieso in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den USA stehen. Und wenn wir uns auf die Geschichte, die Schwarze Geschichte beziehen, ist das Weltgeschichte gewesen. Alles, was in der Bürger*innenrechtsbewegung damals passiert ist, hatte Einfluss auf die ganze Welt. Da dürfen wir die Augen nicht davor verschließen. Alles, was da entschieden wird, wird unser Leben hier jetzt auch beeinflussen – definitiv.
Deutschlandfunk Kultur: Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, bleiben wir doch noch mal ganz kurz in den USA. Wir haben dieses Bild gesehen, dieses schreckliche Bild: das Knie eines weißen Polizisten auf dem Nacken eines Schwarzen Mannes, ein minutenlanger Todeskampf. – Was sagt das über eine Gesellschaft aus, wenn es erst so ein starkes Bild braucht, um Rassismus überhaupt als Problem zu erkennen?
Kelly: Ich muss das wieder auf den deutschen Kontext ziehen, weil auch diese Bilder in Deutschland gezeigt wurden. Aber, was ich wichtig finde, so furchtbar diese Bilder auch sind - und es war für jeden Schwarzen Menschen retraumatisierend, diese Bilder zu sehen - dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass wirklich kurz vorher der Fall im Central Park passiert ist mit Amy Cooper. Ich glaube, dass wir diese beiden Bilder und wie sie medial vermittelt wurden, zusammen im Kontext verstehen müssen.
Auf der einen Seite haben wir Amy Cooper, die zeigt, wie White Supremacy funktioniert. Sie hat es schon fast performt, diese Jahrhunderte alte Geschichte: Will einen Schwarzen Mann im Central Park anzeigen dafür, dass er sie drum bittet, ihren Hund anzuleinen, was im Central Park in New York sowieso Pflicht ist, sie daraufhin ihn bedroht und sagt: "Du hast mir gar nix zu sagen. Ich rufe jetzt die Polizei und sage, dass ich von einem Schwarzen Mann bedroht werde."
Kurze Zeit später, also, ich glaube, das war innerhalb von 24 Stunden, gingen die Bilder von George Floyd um die Welt. Da hatten wir die Kehrseite der Medaille. Weil, was wir eben nicht vergessen dürfen, ist, dass White Supremacy und rassistische Unterdrückung zwei Seiten derselben Medaille sind. Mit diesen Images, die um die Welt gingen, wurde das so offengelegt wie nie zuvor.
Ich glaube, das erklärt ein stückweit die Wirkung, die es auch hier in Deutschland gehabt hat. Also, es hat im Prinzip die unsichtbare Dimension des Rassismus sichtbar gemacht, die unsichtbare Dimension des Weißseins sichtbar gemacht. Wenn wir über Rassismus reden, reden wir immer über Schwarze. Und wir haben es ja jetzt im Fall von Maischberger gesehen, auch gerne ohne Schwarze. Aber es wird nie auch mitgedacht, dass es natürlich auch Weißsein und eine Geschichte des Weißseins gibt, die ganz eng zusammengeht mit rassistischer Unterdrückung.

Amy Cooper hat Weißsein sichtbar gemacht

Und das, was wir in dem Video von Amy Cooper gesehen haben, war, wie Weißsein in dem rassistischen System funktioniert. Das, was sonst immer ausgeblendet bleibt, nämlich die weiße Position, die Täterinnenposition im Kontext von Rassismus, ist durch ihr Verhalten, durch dieses Video, schon um die Welt gegangen. Das, was weiße Menschen immer gerne leugnen, weil sie es selbst nicht sehen, weil es Teil ihres blinden Fleckes ist. Das hat meiner Meinung nach zu einer größeren Wirkung, einer extremeren Wirkung dieses Falls geführt, weil plötzlich Weißsein sichtbar wird für Weiße. Das ist ja das, was wir ja schon seit Jahrhunderten sagen. Aber es wird ja gar nicht gehört. Aber jetzt wurde es gesehen. Es wurde performt durch Amy Cooper.
Deutschlandfunk Kultur: Dass das Weißsein die Kehrseite ist, wie Sie sagen, der gleichen Medaille, die dann rassistische Diskriminierung zur Folge hat und dass sich das gegenseitig bedingt, wenn ich das jetzt richtig wiedergebe?
Kelly: Richtig, es bedingt sich gegenseitig. Natürlich, es braucht immer Opfer und Täter.
Deutschlandfunk Kultur: Trotzdem ist es ja, wenn wir jetzt wieder mal auf die deutsche Perspektive gucken der Mehrheitsgesellschaft hier, die ja nun mal weiß ist, die ist möglicherweise so: Man guckt auf die USA. Man sieht, was dort geschieht, sieht rassistische Gewalt und sagt: "Schlimm, aber in Deutschland haben wir das Problem ja eigentlich nicht, weil es hier nicht so viele Schwarze Menschen sichtbar gibt vermeintlich."
Glauben Sie, dass Schwarze Menschen in den USA stärker mit Rassismus konfrontiert werden als hier in Deutschland? Oder ist das eine völlig falsche Annahme?
Kelly: Ich glaube, in Ihrer Argumentation steckt ein Denkfehler drin. Da muss ich zurück. Es ist nicht ohne Grund, dass es hier zahlenmäßig nicht so viele Schwarze Menschen gibt. Das ist ja Teil der Geschichte des Rassismus in Deutschland. Um das wirklich versuchen kurz zu fassen, eine Chronologie aufzubauen: Deutschland verlor nach dem Ersten Weltkrieg seine Kolonien. Die Menschen aus den Kolonien, aus den verschiedenen afrikanischen Kolonien, die zu einer Vielzahl in Deutschland gelebt haben, wurden mit deportiert. Kamerun ging an Frankreich. Alle Schwarzen Menschen aus Kamerun wurden nach Frankreich deportiert – usw. usf.

"Es ist kein Zufall, dass Deutschland als weiß imaginiert wird"

Dann gehen wir weiter. Der Zweite Weltkrieg: Die noch verbliebenen Schwarzen Menschen sind auch Opfer des Nationalsozialsozialismus gewesen oder viele in die USA geflohen. Dann gehen wir weiter: Die Nachkriegszeit. Die Soldaten beispielsweise, Schwarze US-amerikanische Soldaten, die mit weißen Frauen Kinder gekriegt haben, diese Kinder, Schwarze Kinder, wurden zwangsadoptiert in die USA. Wir gehen weiter bis zum Mauerfall, die Vereinigung Ost-West. In Ostdeutschland befinden sich viele Schwarze Menschen aus verschiedenen, unterschiedlichen afrikanischen ehemals kommunistischen Ländern. Auch sie wurden deportiert nach dem Mauerfall. Es gab keine Einbürgerung dieser Menschen. – Bis hin zur Gegenwart, dass Schwarze Körper im Mittelmeer zum Ertrinken gelassen werden. Es hat eine Geschichte, warum Deutschland als weiß imaginiert wird. Es ist kein Zufall.
Wir müssen anfangen, die Dinge faktisch zu sehen und nicht als gegebene Tatsache, von der aus wir dann starten. Sondern wir müssen uns mal die Frage stellen: Wie kommen diese Konventionalisierungen, diese Naturalisierungen, diese Normalisierungen, letzten Endes unsere Normalvorstellung von Deutsch als weiß, überhaupt zustande? Und dann sind wir schon in einer strukturellen Debatte zu Rassismus drin. Und diese Debatten müssen wir führen in Deutschland mit Fakten.
Es ist gut und wichtig, dass wir uns mitteilen. Alle wollen wissen, wie wir uns gerade fühlen – ach diese Betroffenheit. Ja, Erfahrungswissen ist wichtig. Es ist wichtig, sich mitzuteilen. Aber wenn wir es schaffen, diese emotionale Distanz einzuhalten, dann können wir auch über die Fakten sprechen. Und diese Debatte fehlt mir in diesem Land.
Deutschlandfunk Kultur: Einer der Fakten, die Menschen wie Sie, die sich eben wissenschaftlich mit Rassismus auseinandersetzen, immer wieder betonen, ist ja, dass Rassismus nicht nur etwas Individuelles ist - also, der Neonazi, der eine Schwarze Person verprügelt oder sogar tötet, sondern dass es auch eine strukturelle Ebene von Rassismus gibt, die dafür sorgt, dass Schwarze Menschen zum Beispiel nicht so ernstgenommen werden, dass sie in bestimmte Positionen gar nicht erst kommen, weil sie im Bewerbungsgespräch nicht eingeladen werden usw.
Haben Sie das Gefühl, dass dieser Hinweis auf strukturellen Rassismus in Deutschland von Seiten der Politik ernst genug genommen wird?
Kelly: Es wird gar nicht verstanden. Bleiben wir bei dem Beispiel der Geschichte des Weißseins in Deutschland. Warum weiß als deutsch imaginiert wird, geht ja damit einher oder führt ja dazu, dass Schwarze Menschen hier als Fremde gelesen werden, obwohl viele Familien seit vielen Generationen schon in Deutschland leben. Das reicht bis zur Kolonialzeit zurück, einige Familiengeschichten. Also, da sind wir jenseits zweiter oder dritter Generation. Und wenn wir nicht anfangen zu verstehen, dass dann im Prinzip die Kontinuität dieser Vorstellung sich in Gesellschaft einschreibt - das ist ja, was die Strukturen schafft - können wir ja gar keine Debatte auf einer strukturellen Ebene führen.

Rassismus muss als Struktur verstanden werden

Dieses Verständnis fehlt meiner Meinung nach, warum wir von einer individuellen Ebene in den vor allem politischen und öffentlichen Debatten auf eine strukturelle Debatte müssen, wenn das Ziel ist, die Struktur zu verändern. Wir verändern Strukturen nicht, indem wir auf der Mikroebene irgendwie ein paar Sachen justieren oder eine Quote einführen, dass dann irgendwie plötzlich ein paar mehr Schwarze Menschen tokenisiert werden.
Nein. Wir müssen die Debatte auf einer strukturellen Ebene führen. Das heißt, dass wir Rassismus auch als Struktur, das heißt, als historisch gewachsene Kontinuität einer lange andauernden rassistischen Ideologie lernen müssen zu verstehen.
Deutschlandfunk Kultur: Im öffentlichen Diskurs in Deutschland ist es ja so, dass Rassismus auf jeden Fall als Problem beschrieben wird. Und es gibt zumindest auch Versuche, auf der strukturellen Ebene rassistische Diskriminierung zu verhindern. Gestern ist in Berlin ein neues Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet worden, das eben auch Einzelpersonen die Möglichkeit gibt, gegen Behörden zu klagen, wenn sie sich diskriminiert fühlen, unter anderem aufgrund vermuteter rassistischer Diskriminierung. Und ein anderes Beispiel, das ja immer wieder ins Feld geführt wird, ist Polizeipraxis, Racial Profiling - also, dass Polizistinnen und Polizisten gezielt Schwarze Personen kontrollieren. Da gab es vor einigen Jahren schon ein Urteil dazu, das gesagt hat, diese Praxis verstößt ganz klar gegen das Grundgesetz, weil die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Also, da gibt es eigentlich, also auch auf der strukturellen Ebene einen Widerspruch.
Kelly: Erstmal muss ich dazu sagen: Ich habe die Pressemitteilung heute Morgen gelesen bezüglich des Antidiskriminierungsgesetzes des Landes Berlin, also Berlin als erstes Land, das es einführt. Es war ein jahrelanger Prozess. Ich möchte nicht, dass das jetzt irgendwie verstanden wird als: "George Floyd stirbt und Berlin reagiert mit einem Landesgesetz gegen Antidiskriminierung". So lief die Nummer ja auch nicht, sondern es war jahrelange, harte Arbeit von Schwarzen Organisationen, die sich wie lange mit dem Senat auseinandersetzen mussten.
Und traurige Realität ist, dass erst George Floyd sterben muss, bis dieses Gesetz verabschiedet wird. Das ist unsere bittere Realität.
Deutschlandfunk Kultur: Wobei es wahrschein auch verabschiedet worden wäre, wenn es jetzt diesen Todesfall nicht gegeben hätte. Also, diesen Zusammenhang würde ich jetzt mal anzweifeln.
Kelly: Hätte, hätte, Fahrradkette!
Deutschlandfunk Kultur: Ich glaube, was vielen Weißen Personen nicht so klar ist und was sie jetzt im Zuge der Debatte vielleicht, hoffentlich auch lernen, ist eben, wie sehr sie selber in rassistische Strukturen involviert sind. Das ist dieses sogenannte White Privilege, dass man als weißer Mensch gar nicht merkt, was man für Vorteile genießt in dieser Welt nur allein dadurch, dass man weiß ist.
Glauben Sie, dass sich das jetzt im Zuge der Diskussion ändern könnte, verbessern könnte, ein Bewusstsein entstehen könnte?
Kelly: Wenn weiße Menschen ihre Abwehrstrategien niederlegen, ja. Das ist nämlich auch eine typische Reaktion in sämtlichen Rassismus-Debatten: "Ja, aber ich will nicht als weißer Mann markiert werden." Oder: "Ich sehe keine Farbe. Für mich sind alle Menschen gleich." – Also, da sind schon ganze Bücher mit gefüllt worden, alleine mit den Abwehrstrategien.
Deutschlandfunk Kultur: Sozusagen - man selber ist natürlich kein Rassist.
Kelly: Genau. "Wir selber sind doch Humanisten." Und dann kommt die Menschheitsgeschichte und, und, und. Aber so kommen wir ja nicht weiter in der Debatte, weil, wir haben uns ja nicht selbst markiert. Wir haben uns nicht selbst gestohlen aus Afrika. Wir haben uns nicht auf die Schiffe gesetzt. Wir sind nicht rüber gesegelt und haben gesagt: "Versklave mich." Also, so ist die Geschichte ja nicht gelaufen.

Deutschland trägt historische Verantwortung

Und wir tragen alle eine historische Verantwortung. Auch Deutschland trägt im Kontext von Kolonialismus eine historische Verantwortung. Und es ist nicht genug getan zu sagen, "okay, nach dem Ersten Weltkrieg haben wir diese Kolonien verloren. Und deswegen hat das jetzt nix mehr mit uns zu tun." Weil, es schreibt sich ja eben nicht nur auf einer zwischenmenschlichen, sprich Mikroebene, ein, sondern es schreibt sich ein in Sprache, wie es sich widerspiegelt in Form von Alltagsrassismus, sprich, auf der sozialen Ebene – wenn ich einen Job will, dass ich nur bestimmte Jobs kriege, wie sich das in Institutionen widerspiegelt, das Beispiel von Racial Profiling hatten wir, aber auch in Universitäten. Warum gibt es keine Forschung zu Rassismus in Deutschland?
Es gibt keine Forschung, keine offizielle Forschung. Wir müssen immer über irgendwelche Umwege gehen, durch irgendwelche Nebentüren, wenn wir zu Rassismus forschen wollen.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt zum Beispiel historische Ansätze: Kolonialismusforschung.
Kelly: Kolonialismusforschung gibt es auch nicht. Post-Kolonialismus müsste es geben. Dann kämen wir der Sache ein bisschen näher, ja. Und wenn dann Forschung gemacht wird wie Afrikanistik oder so, dann ist es aus einer eurozentrischen Perspektive von weißen Personen, die sich selbst wieder aus der Analyse rausnehmen, wenn sie dann über Afrika diskutieren. Oder wir haben die weiße Perspektive auf Kolonialismus. Wir brauchen Mehr-Perspektivität. Es heißt nicht, dass es diese Perspektiven nicht geben soll, aber die können nebeneinanderstehen. Und es ist wichtig, dass sie nebeneinanderstehen, weil, wir haben verwobene Geschichten.
Momentan haben wir das Problem in Deutschland, dass wir eine Mono-Geschichte haben. Wie Geschichte in Deutschland erzählt wird, ist eine weiße Individualerzählung, aus der wir sowieso jedes Mal dann rausfallen, obwohl wir gleichzeitig benutzt werden, um diese Geschichte zu erzählen. Wir werden ja objektifiziert. – Ohne Afrika kein Europa!
Deutschlandfunk Kultur: Also, die Beziehungen zwischen Afrika und Europa, die Kolonialbeziehungen werden aus Ihrer Sicht viel zu wenig durchdrungen und sich präsent gemacht von der weißen Bevölkerung?
Kelly: Aus Schwarzer Perspektive. Das ist ganz wichtig. Ich brauche keinen weißen Mann, der mir erzählt, was es bedeutet, eine Schwarze Frau in Deutschland zu sein. Das brauche ich nicht. Und das brauchen meine Kinder nicht, meine Töchter nicht, meine Schwestern nicht. Wir brauchen das nicht. Wir brauchen Repräsentation auf allen Ebenen dieser Gesellschaft – in der Wissenschaft, in den Medien, bei der Polizei, in der Politik - überall! Und immer diese Ausrede zu hören: "Hier wohnen aber nicht so viele Schwarze Menschen" … ja, dann nochmal zurück in die Geschichtsbücher! Warum leben hier nicht so viele Schwarze Menschen?
Deutschlandfunk Kultur: Im Zuge der Proteste in den USA gibt es ja auch in Deutschland Solidaritätsdemonstrationen. Heute am Samstag sind Demonstrationen angemeldet zum Beispiel in München, Düsseldorf, Hamburg, Köln, über Deutschland verteilt. – Welche Rolle spielen diese Solidaritäts-Demos, wo ja eben auch viele weiße Deutsche hingehen?
Kelly: Demonstrationsrecht hängt ja ganz eng mit der Meinungsfreiheit zusammen. Da sind wir auf der Debatte der Menschenrechte. Da sind wir ja auf einer Menschenrechtsebene unterwegs. Das wiederum geht Hand in Hand mit Schutz vor Diskriminierung, was auch ein Menschenrecht ist. Das dürfen wir ja nicht vergessen. Eigentlich das, was wir hier die ganze Zeit machen, ist, Menschenrechte zu debattieren, was eigentlich ein absolutes No-Go ist.
Deutschlandfunk Kultur: Weil man sie gar nicht infrage stellen sollte.
Kelly: Ganz genau! In einer demokratischen Gesellschaft, die sich Demokratie jedes Mal an die Fahne schreibt, diskutieren wir hier über Menschenrechte. Für mich ist das eigentlich verdammt traurig zu sehen, dass bei der letzten Demo in einer Stadt wie Berlin mit seiner Kolonialgeschichte, mit seiner nationalsozialistischen Geschichte, mit seiner rassistischen Wendegeschichte es lediglich von drei Millionen Menschen knapp zweitausend Menschen auf die Straße geschafft haben, nicht mal ein Prozent. Shame on you, Berlin! Ich hätte erwartet, dass mindestens eine Million Menschen aufsteht und wirklich nein sagt zu Rassismus. Das ist das, was ich erwarte.
Und wenn das erreicht ist, dann sind wir unserem Ziel ein bisschen nähergekommen. Vorher nicht!
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja auch, wie ich das wahrgenommen habe in den letzten Wochen, innerhalb der Schwarzen und People-of-Color-Community einen etwas zwiespältigen Blick auf die Solidaritätsaktionen, die wir zum Beispiel diese Woche auf Instagram gesehen haben, wo sehr viele Leute einfach nur ein schwarzes Foto gepostet haben. Das haben auch viele weiße Menschen gemacht. Das haben aber nicht alle in der Schwarzen Community unbedingt als Solidarität und Unterstützung wahrgenommen. – Wie stehen Sie dazu?
Kelly: Na ja, okay. Diese "schwarze Kachel"-Geschichte ist wirklich umstritten. Aber wenn wir mal von diesem Beispiel runtergehen, weil bis ich das irgendwie jetzt hier erklärt habe, was da los war … Ich glaube, insgesamt zeigt sich ja tatsächlich, gerade in den sozialen Medien kommt viel Solidarität von auch weißen Menschen, was ja gut ist und, ich finde, auch wünschenswert ist … "wünschenswert" ist zu wenig, eigentlich eingefordert wird von mir und, glaube ich, von vielen anderen aus der Community, dass das passiert.
Aber – und jetzt sind wir wieder bei den Strukturen – was ist die Motivation dahinter? Erfolgt es nur aus einer Empathie heraus? Das ist zu wenig! Ja, uns berühren diese Fälle. Ja, wir haben gesehen, wie George Floyd vor unseren Augen stirbt. Ja! Und natürlich berührt einen das auch. Aber es braucht mehr Aktion, weil, das Problem liegt in den Strukturen. – Ich wiederhole mich ständig, was diese Strukturen angeht. Und es reicht nicht, einfach mal einen schwarzen Balken zu posten oder mal auf eine Demo zu gehen und ein Schild hochzuhalten, sondern es ist doch entscheidend, dass der Widerstand kontinuierlich bleibt.
Wenn wir nämlich uns auch die Geschichte des Rassismus ansehen: Die Geschichte des Widerstandes war auch immer kontinuierlich. Die ist ja nie abgebrochen, nur haben Weiße das Privileg gehabt, sich nicht daran zu beteiligen.

Weiße müssen eigenen Rassismus erkennen

Jetzt ist der Fall, wie ich versucht habe eingangs zu schildern, etwas anderes. Und sie können sich ja gar nicht mehr rausnehmen, weil Weißsein plötzlich durch Amy Cooper sichtbar geworden ist für die Welt. Da entsteht doch eine ganz andere Verantwortung eines jeden einzelnen weißen Menschen, der sich als Humanist versteht und der auch wirklich alle Menschen gleich sieht.
Da steht doch eine andere Verantwortung dahinter, auch in sich zu schauen: Warte mal, wenn Rassismus strukturell ist, was hat das eigentlich mit mir gemacht? Wie beeinflusst das mein Handeln? Wie beeinflusst es meine Argumentation in bestimmten Debatten? Wie beeinflusst es aber auch, wie ich bestimmte Menschen sehe? – Und da sind wir wieder bei Racial Profiling und der Polizei, dass automatisch diese eingeschriebenen Mechanismen, die aus einer rassistischen, kolonialen Ideologie stammen, heute wie ein Motor den Rassismus am Leben halten.
Hier geht es zur neuen Folge des Lakonisch-Elegant-Podcasts und dem Thema "Black Live Matters".
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Deutschlandfunk Kultur: Also das, was da ja auch drin mitschwingt, ist der ganz klare Appell, die Aufgabe an weiße Menschen, sich mit Rassismus, mit dem sie aufgewachsen sind, den sie internalisiert haben, auseinanderzusetzen. Das ist etwas, was weiße Menschen tun müssten aus Ihrer Perspektive?
Kelly: Ja, und zwar jeden Tag und nicht nur mit einem Post bei Social Media, Instagram, Facebook oder wie auch immer diese Sachen heute heißen - ich komme doch gar nicht mehr mit, was es alles gibt. Das ist nicht genug. Nimm vor allem den Protest mit auf die Straße! Und da sind wir wieder bei den Demos, weil natürlich gewisse Menschen auch, glaube ich, die Schlagkraft - gerade die Politiker, die Medien - die Schlagkraft von Social Media gerade sehr unterschätzen.
Deutschlandfunk Kultur: Das wäre auch noch ein Punkt. Eine Beobachtung, die ich gemacht habe in den letzten Jahren, also nicht erst jetzt nach dem Todesfall von George Floyd, sondern in den gesamten letzten Jahren, ist ja, dass diese Stimmen auch in Deutschland lauter werden, die Stimmen von Schwarzen Menschen, von People of Color, durch soziale Netzwerke, aber zum Beispiel auch durch Podcasts. Da gibt’s eine ganze Gemeinschaft von Podcasterinnen und Podcastern, die eben bestimmte Communities hörbar machen. Es gibt Bücher, die dazu erschienen sind - um nur zwei zu nennen, Alice Hasters‘ "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" und Tupoka Ogette mit "Exit Racism", die im Prinzip ja auch weißen Menschen die Anleitung gibt: "So könnt ihr euch eures eigenen Rassismus bewusst werden."
Wenn Sie da so drauf schauen, bewegt sich da wirklich was auch in der Gesamtgesellschaft durch diese Stimmen, die immer lauter werden?
Kelly: Zurück zu Strukturen. Ich werde Sie immer wieder auf diese Strukturen festnageln. Das Ding ist ja: Wir können uns ja in den gegebenen Strukturen - das Beispiel mit der Wissenschaft habe ich ja schon genannt, wie wir als Schwarze Körper aus diesen Strukturen ja rausgedrängt werden. Und da bietet das Internet diesen Raum, das zu tun, auch kreativ zu arbeiten, wie wir es in den gegebenen Strukturen, die nicht für uns geschaffen sind, wo Schwarze Menschen überhaupt gar keinen Zugang zu haben, das bietet das Internet.
Da haben wir erstmal nicht diese Hürden: "Kommen wir rein? Wie kommen wir rein? Muss ich mich hier die ganze Zeit an irgendwelchen rassistischen Strukturen abarbeiten, bis ich überhaupt irgendwie zum Arbeiten komme? Wie reagiert mein Chef? Wie reagieren meine Arbeitskolleginnen? Ich muss ja sowieso immer ständig 200 Prozent bieten, um gleichwertig betrachtet zu werden." – All diese Komponenten fallen im Netz weg.
Dadurch kommt es natürlich zu einer Verschiebung dieser Themen ins Internet, was eine gute Sache ist. Weil, ganz ehrlich: Ich bin es langsam Leid, mich auch an diesen Strukturen abzuarbeiten, weil wir im Prinzip seit zwanzig Jahren dieselben Debatten führen mit dieser Gesellschaft. Und es wird nicht gehört. Dafür muss erst ein Mensch sterben, damit wirklich hingehört wird, was wir nicht zum ersten Mal sagen, was wir seit zwanzig Jahren immer wieder Generation nach Generation nach Generation euch erzählen.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt haben wir diese Situation: Es gibt die Demonstrationen in den USA, Vorbild auch für Demonstrationen in Deutschland. Viele Menschen beschäftigen sich vielleicht auch zum ersten Mal wirklich intensiv mit dem Thema Rassismus, auch wenn sie eben nicht davon betroffen sind, als Objekt von Rassismus, rassifizierte Menschen, sondern als weiße Menschen, die sehr viele Privilegien besitzen. Das bietet die Möglichkeit für einen gesellschaftlichen Wandel.
Welche konkreten Dinge müssten sich denn in Deutschland verändern, damit Sie sagen würden: "Ja, wir haben hier etwas erreicht"?
Kelly: Ich finde, es ist wichtig, mit Expertinnen zu sprechen. Eine Expertin muss nicht jemand sein, die jetzt einen akademischen Abschluss hat, wie in meinem Fall. Es kann auch jemand aus der Community sein, die eben an der Basis arbeitet, an der Straße arbeitet. Es kann jemand sein, die im sozialen Feld arbeitet, psychologische Beratung im Kontext von Rassismus anbietet.
Was mir aber wirklich immer missfällt, ist, wenn Anfragen kommen, sei es von weißen Medien, gerade jetzt in dieser Zeit - zu denen sage ich sowieso immer "Nein" - die nur hören wollen, welche Rassismuserfahrung ich mache. Das hält die Debatte auf einer individuellen Ebene und wir kommen so nicht zu den Strukturen.
Ich glaube, ein bisschen wird diese Debatte so geführt: "Wir holen uns dann mal jemand, die uns ein bisschen von den Rassismuserfahrungen erzählen kann. Und wir "Experten" - in Anführungsstrichen, ja, schwieriger Begriff - die sich wirklich aus unterschiedlichen Perspektiven, die ich gerade genannt habe, mit dieser Thematik beschäftigen, wir werden gar nicht gefragt. Und so kann doch überhaupt gar kein Fundament geschaffen werden, um überhaupt eine vernünftige Debatte zu führen. Das ist das Allererste.
Also, es ist doch wichtig einzugestehen, dass nicht jeder Mensch alles weiß über Rassismus. Deswegen machen wir doch die Forschung. Forschung ist auch wichtig. Die Deutsche Forschungsgesellschaft soll doch mal Gelder in die Forschung, an Schwarze Expertinnen und Experten of Color geben, um zu forschen, um die entsprechenden Ergebnisse zurücktragen zu können in die Gesellschaft. Das ist die zweite Forderung.
Organisationen, die eben wirklich an der Basis arbeiten, direkt mit den Menschen im Alltag, die brauchen gezielt Förderung. Ich bin es so leid, dass irgendwelche weißen Organisationen plötzlich auftauchen, weil sie einen Haufen Geld kriegen, und jetzt irgendwie Schwarze Menschen retten. – Nein! Wir haben unsere eigenen Organisationen, die direkt in die Familien reingehen können, eine ganz andere Perspektive mitbringen, eine andere Einfühlsamkeit auch mitbringen, um überhaupt diese Arbeit zu machen. – Fördert diese Organisationen!
Also, diese ständigen Ausreden bin ich leid.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank, dass Sie da waren.
Kelly: Danke auch.
(Anm. d. Red.: Natasha Kelly legt Wert auf die Großschreibung von "Schwarz", um damit den Widerstand gegen Fremdbezeichnungen zu markieren, die "Hautfarben" rassistisch klassifizieren und kodieren.)
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