Soziologie ist Selbstverteidigung

Von Kersten Knipp · 01.08.2010
Heute wäre Pierre Bourdieu 80 Jahre alt geworden. Der 2002 verstorbene Soziologe zählte zu den berühmtesten Vertreter seiner Zunft. Erstaunlich ist das nicht, denn Bourdieu hatte in besonderes Gespür dafür, wie sich äußere Lebensbedingungen in psychologische Regungen übertragen, wie der Mensch das, was er sieht, in sein Weltbild überträgt.
"Schrecklich dieses Lampenfieber. Mein Mund ist ganz trocken. Gott sei dank habe ich etwas zu trinken. Das ist unglaublich. Es ist furchtbar, das Lampenfieber."

Da sitzt er im Studio, der weltberühmte Intellektuelle, der Star der Pariser, dann der globalen Soziologenszene. Seine Bücher erreichen hohe Auflagen, er eilt von Konferenz zu Konferenz – und kann sich an den Rummel um seine Person doch nicht gewöhnen, ja mehr noch: Er hat Angst vor ihm.

"Meine Erfahrung macht mich für Dinge sensibel, die andere nicht bemerken. Sie lässt mich nervös und ärgerlich werden Dingen gegenüber, die andere vielleicht normal finden."

Seine Erfahrung: Das ist zunächst die der sogenannten einfachen Menschen, ohne akademischen Abschluss und sonstige höhere Weihen. Der Vater arbeitete in der Landwirtschaft, dann bei der französischen Post. Ein kleinbürgerliches Milieu, das Bourdieu aber empfänglich machte für die große, die entscheidende Frage der Soziologie.

"Wie jeder Wissenschaftler versucht ein Soziologe Gesetze zu entdecken, Regelmäßigkeiten zu finden, Regelmäßigkeiten des Handelns und ihre Prinzipien zu beschreiben. Warum handeln die Leute, wie sie handeln? Und nicht ganz anders?"

Warum sind die Leute, wie sie sind? Oder besser, was treibt sie? Warum arrangieren sie sich mit den Verhältnissen? Wie sind Konstellationen beschaffen, dass die Menschen sie hinnehmen, ohne daran zu denken, dass alles auch ganz anders sein könnte?

"Es ist nicht die Frage nach dem Warum?, sondern nach dem Wie kommt es, dass? Wie kommt es, dass die Dinge so laufen, dass die Dinge in unserer Gesellschaft so sind, wie sie sind und nicht anders?"

Soziologie ist ein Kampfsport", heißt das einfühlsame Film-Porträt, das der Suhrkamp-Verlag anlässlich von Pierre Bourdieus 80. Geburtstag herausgegeben hat. Sie ist ein Kampfsport, weil sie hilft, sich zurechtzufinden in der Welt, die Dinge und mehr noch, die ihnen gewidmeten Argumente zu hinterfragen, also die Frage zu stellen: Warum redet einer, wie er redet?

"Die Leute neigen dazu, zu sagen alles wäre in Ordnung, wenn für sie alles in Ordnung ist."

Das Problem ist nur: Wenn die Leute die Welt um sie herum in Ordnung finden, dann sagen sie das nicht nur. Sie tun auch alles dafür, dass sie bleibt, wie sie ist. Und wenn Soziologie ein Kampfsport ist, dann heißt das, dass die soziale Wirklichkeit die Bühne eines ewigen Ringens ist – eines Ringens um Anerkennung, Privilegien, Vorteile. Aber dieser Kampf wird sehr diskret geführt. Zum Gewehr greift niemand. Die Leute wappnen sich mit subtileren Waffen, als da sind: Bildung, angemessenes Verhalten, Berechenbarkeit, kurz: soziales Kapital. Das "soziale Kapital" ist einer der wichtigsten Begriffe Bourdieus. Aus guten Gründen.

"Zuallererst geht es um die Sprache, eine bestimmte Gewandtheit im Umgang mit der Sprache. Ein gewisses Französisch, etwa das vieler Immigranten, hat auf dem Bildungsmarkt keinen Wert. Wenn Sie in der Schule so reden, bekommen Sie eine Sechs. Es geht um das, was man in einer 'kultivierten' Familie mit auf den Weg bekommt. All das stellt Kapital dar, eine knappe Ressource, die ungleich verteilt ist."

Soziales Kapital ist vor allem ein Erkennungszeichen. An ihm erkennen sich die Mitglieder einer sozialen Schicht. Wie redet einer, wie gibt er sich, wie tritt er auf? Daran lässt sich erkennen, wo er groß geworden ist und wohin er darum auch hingehört. Denn von sozialer Beweglichkeit wird zwar gern und viel gesprochen, aber de facto, erläutert Bourdieu, findet sie relativ selten statt. Die Menschen leben in Sippen und Schichten – und diese haben Bindekräfte, die stärker sind als vielfach angenommen. Die Moderne ist einst auch mit dem Anspruch aufgetreten, diese Bindekräfte zu lockern. Gemessen daran, ist sie gescheitert.

"Ich glaube, dass heute in der Gegenwart, vor allem auch in den entwickelten Ländern, aber auch in den anderen, Ungleichheit zunehmend durch die ungleiche Verteilung von kulturellem Kapital reproduziert wird."

So verstanden, hat die Aufklärung versagt. Den Dritten Stand hat es immer gegeben, und wie die Dinge stehen, wird es ihn auch weiterhin geben.

Die bescheidene Herkunft hat Bourdieu empfänglich gemacht für die ingroup-outgroup-Logik, die Mechanismen der sozialen Selektion, für all die Bastionen, mit denen die, die viel zu verlieren haben, ihre Räume absichern. So leicht kommt da niemand durch. Immerhin: Seine Herkunft, erklärt Bourdieu, hat ihn sensibel gemacht für die diskreten Gesetze von oben und unten. Und sie hat ihm geholfen zu überleben. Das kann man ganz wörtlich verstehen. In den späten 50er, frühen 60er-Jahren betrieb Bourdieu soziologische Feldstudien in Algerien – zu einer Zeit also, als dort der Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich gefochten wurde. Ein gefährliches Terrain für einen Wissenschaftler.

"Die Welt, die ich kannte, war nicht die Welt der Pariser Intellektuellen. Das wurde noch verstärkt durch meine Erfahrungen in Algerien, wo ich oft unter gefährlichen Bedingungen forschte. Es kam zwei- oder dreimal vor, dass von meiner Arbeit abhing, ob ich leben oder sterben würde. Das hing auch davon ab, wie ich meine Fragen stellte. Ich hatte keinen anderen Schutz in diesem Bürgerkrieg, diesem Befreiungskampf. Mein einziger Schutz war mein kluger Kopf, meine Art aufzutreten und meine Vorsicht."

Gelehrt hat ihn dieser Aufenthalt, was er immer schon wusste: Die Mechanismen des Bewusstseins greifen tief – sehr tief.

"Wenn man aus kleinen Verhältnissen kommt, aus einer kulturell unterdrückten Region, hat man automatisch eine Art kulturelles Schamgefühl."

Soziologie ist Selbstverteidigung, sagte Bourdieu. Und das ist mehr als bloß eine Metapher.