Soziologe Volker Busch-Geertsema

"Wir brauchen kleine, bezahlbare Mietwohnungen!"

Ein Mann schläft in Berlin auf einer mit Pappkarton ausgelegten Bank im Regierungsviertel.
Ein Mann schläft in Berlin auf einer mit Pappkarton ausgelegten Bank im Regierungsviertel. © dpa / picture alliance / Paul Zinken
Moderation: Andre Zantow · 10.02.2018
Rund 800.000 Menschen haben laut Schätzungen in Deutschland keine feste Bleibe. Deshalb fordert Sozialwissenschaftler Volker Busch-Geertsema eine nationale Strategie, um Wohnungslosen zu helfen - ähnlich wie in Finnland mit dem "Housing First"-Konzept.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Busch-Geertsema, wann haben Sie das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen, der keine Wohnung hatte?
Volker Busch-Geertsema: Am letzten Montag. Ich bin Mitglied des Bremer Bündnisses für das Menschenrecht auf Wohnen, dem auch eine ganze Reihe von Wohnungslosen angehören. Nächsten Sonntag habe ich Frühstücksdienst in der "Tasse". Das ist so ein Treffpunkt für Wohnungslose. Da spreche ich sicher wieder mit Wohnungslosen.
Deutschlandfunk Kultur: Und was sind Gesprächsthemen?
Volker Busch-Geertsema: Na ja, jetzt am Montag ging es schon auch um diese Frage: Gibt es denn genügend Kälteschutz? Ausnahmsweise, für den Winter werden jetzt auch die EU-Zuwanderer dann doch über den ganzen Monat hinweg untergebracht. Da war dann die Rede davon, dass es knapp wird mit den Unterbringungsplätzen. Aber es gibt ja eine klare Verpflichtung der Kommune, Obdachlose unterzubringen, vor Obdachlosigkeit zu bewahren.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das eigentlich für Sie inzwischen Routine, wenn Sie mit den Menschen sprechen? Oder entsteht immer auch noch Mitgefühl, Mitleid oder vielleicht auch Wut, weil es immer mehr werden?
Volker Busch-Geertsema: Wut gibt’s schon häufiger mal, aber ich habe doch relativ regelmäßig Kontakt mit Wohnungslosen und bin da durchaus auch engagiert, dass sie in Wohnungen kommen. Was ich manchmal eher ein bisschen schwierig finde, ist, wenn es dann nur um die "Unterkunft" geht. Ich würde immer sehr dafür plädieren, dass Wohnungslose eine Wohnung brauchen und nicht nur ein Dach überm Kopf.

Rund 50.000 Obdachlose in Deutschland

Deutschlandfunk Kultur: Sprechen wir doch mal über die verschiedenen Begriffe: Obdachlosigkeit, wohnungslos. Das ist ja nicht dasselbe. Wie viele Menschen sind denn jeweils betroffen?
Volker Busch-Geertsema: Ja, das ist immer ein bisschen schwierig, weil dieser Begriff der Obdachlosigkeit wird sehr unterschiedlich verwendet. Also, die Städte, die die Menschen unterbringen, nennen die Obdachlosen verrückterweise die, denen sie ein Dach überm Kopf geben in ihren Obdachlosenunterkünften. Das sind für sie die Obdachlosen.
Im gemeinen Sprachgebrauch würde man ja eher sagen, die Obdachlosen sind die ohne Obdach und sie sind eine relativ kleine Teilgruppe der Wohnungslosen. Das sind Menschen, die eben keinen Mietvertrag haben, keine dauerhafte Wohnungsversorgung. Die können auch bei Freunden und Bekannten vorübergehend Unterschlupf gesucht haben, die sogenannten Sofa-Hopper, oder sie sind in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.
Und bei den Obdachlosen auf der Straße, das sind so – schlimm genug – um die 50.000, so schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Sie haben die Zahl 800.000 für Wohnungslose insgesamt genannt, und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sagt, es könnte sich jetzt bis über eine Million entwickeln. Ich selber bin da eher ein bisschen skeptisch. Ich würde eher sagen, wahrscheinlich sind es deutlich weniger.
Es wird ja jetzt bald eine Bundeswohnungslosenstatistik geben. Dann werden wir das sehen. Wir wissen aus einzelnen Bundesländern, dass die Stichtagszahlen, also das, was die Bundesarbeitsgemeinschaft schätzt, sind so Jahresgesamtzahlen, die Stichtagszahlen sind geringer. Ich finde das durchaus auch wichtig, weil, es ist ein Problem, was lösbar ist. Wohnungslosigkeit kann sehr weitgehend beseitigt werden, wenn man die richtigen Maßnahmen ergreift.

Rückgang der Sozialwohnungen von 2,6 auf 1,2 Millionen

Deutschlandfunk Kultur: Die Konzepte wollen wir noch besprechen, aber erstmal eine Sache erwähnen: Es gibt ja vor allem in ländlichen Regionen durchaus viel Leerstand. Warum gibt es denn gleichzeitig hunderttausende Menschen, die keine Wohnung haben?
Volker Busch-Geertsema: Ja, zum einen ist es tatsächlich ein stark städtisches Phänomen. Es ist nicht nur in den Städten, aber Sie haben natürlich die Boomtowns, so wie Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Berlin, München. Da ist es besonders eng. Da sind die Wohnungsmärkte besonders eng. Da gibt es aber auch am ehesten Arbeit. Und Wohnungslose gehen da hin, wo es Arbeit gibt, aber auch wo es soziale Hilfen gibt. Das heißt oft, wenn sie wohnungslos werden, gehen sie dann weg aus den ländlichen Regionen.
Und dann haben wir natürlich eine ganze Reihe von Entwicklungen, die dazu beigetragen haben, dass die Wohnungsnot sich verschärft hat. Das ist zum einen der massive Rückgang von Sozialwohnungen – im Jahr 2000 hatten wir noch um die 2,6 Millionen, jetzt haben wir noch 1,2 Millionen Sozialwohnungen, dann die stark gestiegenen Mieten, aber durchaus auch solche Sachen wie der Ausschluss von Wohnungslosen aus der Vermietung, wenn sie zum Beispiel einen Schufa-Eintrag haben.
Ich glaube, ein großes Problem ist: Wir bräuchten vor allem bezahlbare kleine Mietwohnungen. Und das, was in den letzten Jahren gebaut worden ist, sind in erster Linie Wohnungen für die höheren Einkommensschichten, Eigentumswohnungen. Und das größte Defizit liegt eben bei den kleinen Wohnungen zu erschwinglichen Mieten. Da ist sehr wenig geschehen in den letzten Jahren.
"Hier entstehen exklusive Eigentumswohnungen" steht auf einem Werbebanner im Bezirk Mitte in Berlin.
Teure Eigentumswohnungen sind in den vergangenen Jahren in vielen Großstädten gebaut worden.© picture alliance / Wolfram Steinberg
Deutschlandfunk Kultur: Sie sagen, Schulden sind ein Grund, warum man in die Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit kommt. Was sind denn weitere Gründe?
Volker Busch-Geertsema: Also, zum einen, Mietschulden ist ein ganz herausragender Grund. Aber wenn Menschen aus dem Gefängnis entlassen werden, aus der Jugendhilfe entlassen werden, aus Therapie entlassen werden und haben keine Wohnung zur Verfügung, haben sie ein Riesenproblem, Wohnungen zu finden.
Wenn Menschen sich trennen, wenn Jugendliche zu Hause raus müssen, dann gibt es das Problem. Da bräuchte es eine alternative Wohnmöglichkeit, eine Anschlussmöglichkeit zu Wohnen. Und das ist eben ein Riesenproblem. Da haben die Kommunen auch leider in den letzten Jahren vieles an Instrumenten, die noch da waren, der kommunale Wohnungsbestand, Belegungsrechte etc., nicht mehr zur Verfügung. Das trägt ganz massiv dazu bei.
Wir hatten ja Ende der 1990er Jahre, Anfang der 2000er einen starken Rückgang von Wohnungslosigkeit.
Deutschlandfunk Kultur: Warum?
Volker Busch-Geertsema: Weil wir weniger Zuwanderung hatten, weil wir nochmal eine starke Zunahme von sozialem Wohnungsbau hatten. Da war die Aussiedlerkrise. Da gab es auch mal eine Weile rechte Stimmengewinne und Gegenreaktionen der Politik, dass man gesagt hat, man muss die soziale Wohnraumversorgung verbessern. Das zeigt auch so ein bisschen, dass der Alkohol oder die Sucht, die natürlich manchmal eine Rolle spielt bei der Verursachung von Wohnungslosigkeit, dass das aber nicht die entscheidenden Strukturmerkmale sind, die dazu führen, dass Wohnungslosigkeit jetzt wieder so zugenommen hat.
Ein Teil der Zunahme geht natürlich auch zurück auf die relativ große Zahl von Geflüchteten, die jetzt zwar eine Anerkennung haben, aber noch keine Wohnung.

"Es fehlt politischer Wille, Wohnungslosigkeit zu bekämpfen"

Deutschlandfunk Kultur: Was sagt das denn aus über uns als reiches Industrieland, wenn wir die letzten Jahre angucken? Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Wirtschaft wächst. Immer mehr Geld ist da. Aber offenbar steigt gleichzeitig die Obdachlosigkeit, die Wohnungslosigkeit im Vergleich mit den 90er Jahren. Wie passt das zusammen?
Volker Busch-Geertsema: Ich glaube, es fehlt noch oft am politischen Willen, Wohnungslosigkeit wirklich wirkungsvoll zu bekämpfen. Den Bereich der Notunterkünfte und Sonderwohnformen auszubauen, ist nach meiner festen Überzeugung der falsche Weg, vor dem man nur warnen kann. Das ist im Moment wieder aller Orten der Fall, dass das gemacht wird. Stattdessen muss zum einen die Prävention verbessert werden, gerade im ländlichen Bereich, aber auch in manchen Städten. Wohnungsverluste müssen wirkungsvoller verhindert werden. Die Barrieren beim Zugang zu dauerhaftem Wohnraum müssen gezielt beseitigt werden.
Es nützt dem Wohnungslosen selber gar nichts, wenn man allgemein den Wohnungsbestand erhöht, sondern für diesen Personenkreis gibt es nicht nur ein Mengenproblem, sondern ein Zugangsproblem. Das muss gelöst werden. – Belegungsrecht, es gibt eine ganze Reihe von Instrumenten, mit denen man das machen kann. Aber dazu braucht es natürlich auch den politischen Willen.
Deutschlandfunk Kultur: Nun kann ja theoretisch jeder eigentlich eine Wohnung bezahlt bekommen. Das ist ja so bei Menschen, die auch arbeitslos sind. Warum gelingt das denn nicht den Menschen, die jetzt eben dann keine Wohnung bekommen haben?
Volker Busch-Geertsema: Ich bin ja auch noch Koordinator des "European of Observatory on Homelessness". Das ist so eine Beobachtungsstelle zur Wohnungslosigkeit, die von der EU-Kommission finanziert wird. Von daher weiß ich, dass das keineswegs selbstverständlich ist in Europa, dass es eben die volle Übernahme der Mietkosten gibt – natürlich im Rahmen von Grenzen, was die Angemessenheit angeht. Aber das ist durchaus eine Errungenschaft. Auch die deutsche Gesetzgebung, was die Mietschuldenübernahme angeht, ist durchaus gar nicht schlecht, durchaus vorbildlich, auch für andere Länder.
Obdachlosenunterkunft der Berliner Stadtmission in einer Traglufthalle am Güterbahnhof in Berlin-Lichtenberg (Foto vom 27.12.17: Die Leiterin Sabrina Bieligk bringt Bettwaesche). In Zusammenarbeit mit einem Hamburger Energiedienstleister hat die Berliner Stadtmission mit der Waermelufthalle Anfang 2014 ein Pilotprojekt gestartet, um neue Wege bei der Betreuung obdachloser Menschen in Berlin zu gehen. Die Halle wurde auf dem Gelaende des ehemaligen Gueterbahnhofs Wilmersdorf aufgestellt. Ueber etwa 1.000 Quadratmeter erstreckt sich die Lufthalle, die mit warmer Luft auf einer Temperatur zwischen 20 und 25 Grad beheizt wird. Seit November 2015 steht die HalleLuja , wie die Notunterkunft genannt wird, am Containerbahnhof in Berlin-Lichtenberg. Hier gibt es Schlafplaetze fuer 120 Maenner, Feldbetten, Kleidunng, Sanitaeranlagen und eine warm Copyright: epd-bild/RolfxZoellner
Obdachlosenunterkunft der Berliner Stadtmission in einer Traglufthalle am Güterbahnhof in Berlin-Lichtenberg: Hier gibt es Schlafplätze für 120 Männer.© imago / epd
Die Probleme liegen hier weniger im Bereich der Gesetzgebung, sondern bei der Umsetzung. Wir brauchen mehr aufsuchende Hilfen. Es muss früher und aktiver interveniert werden, wenn Wohnungsverlust droht. Und die bestehenden Instrumente müssen viel konsequenter genutzt werden.
Wie gesagt, es gibt eben eine ganze Reihe von Menschen, da kann man die jetzige Wohnung nicht erhalten, weil es eine Trennung gibt, weil sie gar nicht in der Wohnung waren. Da braucht es Zugang zu normalem Wohnraum, möglichst schnell und möglichst keine Chronifizierung von Wohnungslosigkeit auf der Straße oder in Einrichtungen.

Finnland hat mit viel Geld Langzeitwohnungslosigkeit "eliminiert"

Deutschlandfunk Kultur: Neben Ihren Forschungen in Bremen sind Sie auch Honorarprofessor in Schottland. Sie sind auch Mitherausgeber des europäischen Journals über Wohnungslosigkeit. Das haben Sie gerade schon angesprochen. Sie haben also auch einen weiten Blick ins Ausland. – Wo gelingt es denn besser als in Deutschland?
Volker Busch-Geertsema: Das Paradebeispiel ist immer Finnland. Finnland hat relativ viel Geld in die Hand genommen, um Wohnungslosigkeit wirklich drastisch zu reduzieren. Die haben sich vorgenommen, Langzeitwohnungslosigkeit wirklich zu eliminieren, also wirklich abzuschaffen. Auch die Einrichtungen, die sie für Langzeitwohnungslose hatten, haben sie geschlossen, haben sie in normalen Wohnraum verwandelt. Und sie haben das stark auf diesem "Housing First"-Konzept aufgebaut. Sie haben gesagt: Diese ganze Idee von Stufensystemen, dass man sich stufenweise langsam integriert, ist der falsche Weg, sondern die Menschen müssen möglichst schnell in normalen Wohnraum kommen und müssen dann eben wohnbegleitende Hilfen kriegen, wenn sie die brauchen.
Was Finnland gemacht hat im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, die durchaus ähnliche Strategien aufgelegt haben, wie zum Beispiel in Dänemark, Finnland hat von vornherein gesehen, dass der Wohnungsbedarf eben ganz zentral ist. Die haben von vornherein Tausende von Wohnungen neu geschaffen direkt für diesen Personenkreis.
Das, denke ich, hat dazu geführt, dass nicht nur in den ersten Strategiejahren Wohnungslosigkeit wirklich halbiert werden konnte in Finnland, sondern auch in den letzten Jahren Langzeitwohnungslosigkeit deutlich heruntergefahren werden konnte. Es ist nicht auf Null, aber es ist deutlich reduziert worden mit diesem Ansatz, zu sagen, keine Einrichtungen, keine Übergangsgeschichten, sondern direkt in Wohnraum und dann wohnbegleitende Hilfen, wenn der Bedarf da ist.

US-Konzept "Housing First" mit hohen Erfolgsquoten

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gerade schon das Wort "Housing First" genannt und es eben gerade auch beschrieben. Was ist das für ein Konzept?
Volker Busch-Geertsema: Das ist ja ein Konzept, was eigentlich in den USA entwickelt worden ist, aber die Kritik, auf der es aufsetzt, die gibt es durchaus auch schon seit längerer Zeit in Europa. Das ist die Kritik an diesen Stufensystemen, wo man von der Notunterkunft über Aufnahmehäuser, über Übergangswohnungen, Wohnheime, Trainingswohnungen, betreute Wohngemeinschaften so langsam Stufe für Stufe herangeführt werden soll ans normale Wohnen. Wohnungslose mit Problemen müssen sich dann in diesen Systemen den Zugang zum Normalwohnraum verdienen durch Mitwirkungsbereitschaft, durch Abstinenz, durch Teilnahme an Therapien.
Das Problem besteht aber darin, dass dieser stufenweise Aufstieg eben häufig gar nicht funktioniert, dass es viele Abstürze gibt, dass es diese Drehtüreffekte gibt, die man immer wieder feststellt im System der Wohnungslosenhilfe und dass Wohnungslosigkeit eben nicht beendet, sondern eigentlich nur gemanagt wird.
"Housing First" ist dagegen die Versorgung mit Normalwohnraum im ersten Schritt, das Angebot an durchaus intensiven wohnbegleitenden Hilfen bei Bedarf. Es folgt so ein bisschen diesem Prinzip Learning by Doing, ebenso, wie man Schwimmen halt am besten im Wasser lernt und nicht auf dem Trockenen. Und wenn man Fahrradfahren lernen will, dann ist es nicht schlecht, wenn man ein Rad hat, dann ist es eben auch gut, wenn man nun wirklich Wohnen lernen muss, dass man das in einer Wohnung tut mit den normalen Herausforderungen des Wohnens – Selbstversorgung, finanzielle Verpflichtungen.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt ganz konkret: Wenn ich jetzt als Jugendlicher rausgehe zu Hause, dann ist das erste, was ich bekomme, direkt eine Wohnung - vom Staat versprochen?
Volker Busch-Geertsema: Es ist eigentlich vor allem ausgerichtet auf chronisch wohnungslose Menschen, auf Menschen mit komplexen Problemlagen, Sucht, psychischen Problemlagen. Und es ist eben gezeigt worden zunächst in den USA, aber jetzt auch häufiger in Europa, dass es erheblich gute Wohnungserhaltungsquoten gibt. 80 Prozent und mehr der Menschen, die mit diesem Konzept in Wohnungen gebracht worden sind, haben ihre Wohnung über Jahre erhalten. In USA war das mit einer Zufallsauswahl: Ein Teil der Wohnungslosen mit derselben Problemlage ist in normale Wohnungen gekommen, die anderen "business as usual". Und es ist eben gezeigt worden, dass es sehr viel höhere Erfolgsquoten bei den Menschen gab, die in "Housing First"-Projekten waren.
Inzwischen gibt es Untersuchungen in Kanada. In Kanada ist das größte Projekt gewesen. Da sind Tausende von Menschen an fünf verschiedenen Orten in "Housing First" gebracht worden. Es gab diese Vergleiche, aber es gibt inzwischen fast in allen westeuropäischen Ländern "Housing First"-Projekte. Und es gibt Länder, die das zu der Grundlage ihrer Wohnungslosenstrategie gemacht haben. Finnland habe ich erwähnt. Dänemark habe ich erwähnt. Frankreich gehört dazu. Österreich kommt so langsam. In den Niederlanden gibt es viele Projekte, aber auch in Italien, Spanien, Portugal, England, Irland. Also, wir haben eine ganze Zahl, eine große Liste von Ländern, in denen Housing-First zumindest projektweise erprobt wird.
Deutschlandfunk Kultur: Geht es dabei auch um die Psychologie, dass man sich eben die ganze Bürokratie, die Anträge, die Formulare erspart und man wirklich ohne diese ganzen Hürden, die für einige, die lange auf der Straße oder ohne Wohnung gelebt haben, schwer zu überwinden sind, gleich eine Wohnung bekommt?
Volker Busch-Geertsema: Ja, es geht auch um so was, was die Soziologen ontologische Sicherheit nennen. Also, man hat eine Ausgangsbasis, wo man weiß, hier kann ich bleiben, hier muss ich nicht mehr weg. Wenn ich hier Bezüge aufbaue, sind es Bezüge auf Dauer. Und hier kann ich sozusagen meine Identität entwickeln. Ich habe den Schlüssel zur Tür. Ich entscheide darüber, wer hier rein kommt. Das sind viele Dinge, die positiv bewertet werden. Und das ganze Konzept arbeitet sehr stark an den Präferenzen und Wünschen der Menschen entlang, die da versorgt werden, sowohl bei der Wohnungswahl, aber auch bei der Frage: Wo wollen Sie Unterstützung haben? Welche Ziele haben sie im Leben? Wie soll, wenn sie dann mal eine Wohnung haben, die weitere Integration laufen?

"Das Zugangsproblem zu Wohnungen muss im Mittelpunkt stehen"

Deutschlandfunk Kultur: Wann startet "Housing First" in Deutschland?
Volker Busch-Geertsema: Es gibt Menschen, die sagen, das ist schon seit 30 Jahren hier Mainstream. Das sehe ich nicht so. Ich sehe in vielen Städten immer noch die Idee des Stufensystems sehr stark verankert. Wir finden überall Trainingswohnungen und diese Idee des Probewohnens etc.
Auf der Verbandsebene gibt es diese Forderungen: "Jeder Mensch braucht eine Wohnung" oder "Eine Bank ist kein Zuhause". Aber in der Praxis stößt die direkte Versorgung mit Wohnraum auf viele Bedenken. Und wir haben einfach das Problem des Zugangs zu Wohnraum natürlich. Ein australischer Kollege sagte mal: "Housing first is nice, but where is the housing?" Also, wo sind die Wohnungen. Und der Zugang zu Wohnraum ist natürlich ein ganz zentraler Punkt, den man angehen muss und den meines Erachtens auch die Träger der Wohnungslosenhilfe selber starker angehen müssen. Die müssen selber dafür sorgen, dass Zugänge zu Wohnraum geschaffen werden.
Deutschlandfunk Kultur: Wie denn?
Volker Busch-Geertsema: Es gibt tausende Möglichkeiten. Es können kirchliche Immobilien genutzt werden. Wir haben Bremen zum Beispiel so eine Regelung, dass, wenn kommunale Grundstücke verkauft werden, 25 Prozent dieser Grundstücke mit Sozialwohnungen bebaut werden müssen – und davon wieder 20 Prozent an Wohnungslose gehen müssen.
Es gibt Kooperationsverträge mit kommunalen Wohnungsgesellschaften. Es gibt die ethische Anlage von Kleininvestoren. Es gibt Stiftungsmodelle. Es gibt sogenannte soziale Wohnraumagenturen, die Wohnungen anmieten und an Wohnungslose vermieten. – Also, es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die auch schon erprobt und auch praktisch umgesetzt werden, aber immer das eine in Stuttgart, das andere mal in Darmstadt und das dritte mal in Berlin. In Berlin gibt es zum Beispiel das geschützte Marktsegment, also ein relativ großer Bereich von Wohnungen, die jährlich an Wohnungslose vergeben werden. Aber es bräuchte im Grunde genommen eine nationale Strategie, in der wirklich flächendeckend solche Maßnahmen nicht nur erprobt, sondern auch umgesetzt werden.
Zum Beispiel in Belgien haben wir in fast jeder kleinen Stadt so eine soziale Wohnraumagentur, die mit privaten Vermietern zusammenarbeitet, die denen die Verwaltung abnimmt und die dann auch für Betreuung sorgt, wenn das notwendig ist. In Deutschland haben wir vielleicht sieben oder acht solche Wohnraumagenturen. Eigentlich müssten wir in jeder Stadt eine haben.
Dazu bräuchte es gar nicht so viel. Es bräuchte ein bisschen Unterstützung bei den Regiekosten, bei der Abdeckung von Risiken. Aber es muss erstmal in die Köpfe, dass das Mengenproblem nicht das einzige Problem ist, sondern dass das Zugangsproblem wirklich in den Mittelpunkt der Bestrebungen geht.

Koalitionsvertrag geht "am drängensten Bedarf vorbei"

Deutschlandfunk Kultur: Sie sagen, es braucht dafür auch eine bundesweite Strategie. Jetzt haben wir ja einen frischen, neuen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD. Was sehen Sie darin zum Thema Bauen und auch für die Wohnungslosen und Obdachlosen?
Volker Busch-Geertsema: Ja, also: Das erste, was bekannt geworden ist, war das Baukindergeld. Ich habe auch nichts dagegen, dass auch junge Familien bauen können, aber sozusagen diese Ausrichtung so stark immer auf Eigentumsbildung und auf Familienhaushalte geht an dem drängendsten Bedarf vorbei. Was wir brauchen, sind Kleinwohnungen, erschwingliche Kleinwohnungen. Und bei den Wohnungslosen brauchen wir dann auch noch einen privilegierten Zugang dazu.
Da gibt es ja so ein paar Sachen. Es soll mehr sozialer Wohnungsbau betrieben werden. Es soll die Mietpreisentwicklung etwas abgedämpft werden. Aber das sind eher Maßnahmen, die sozusagen die Exzesse etwas eindämpfen. Also, wenn sie bei einer Modernisierung elf Prozent jedes Jahr zusätzlich in der Miete haben, dann können manche das nicht mehr bezahlen. Das soll jetzt reduziert werden auf acht Prozent. Das ist immerhin was.
Aber so eine gezielte Strategie, wo gesagt wird, wir brauchen für diesen Personenkreis, der am meisten benachteiligt ist am Wohnungsmarkt, gezielt Wohnraum und brauchen Ansätze, mit denen die nicht mit Obdach- und nicht mit Kältehilfe und Containern und irgendwelchen neuen Ideen - Tiny-Houses oder irgendwelche Substandardsachen - versorgt werden, sondern ganz normale Wohnungen für diesen Personenkreis gezielt bereitgestellt werden. Da sind wir, glaube ich, leider noch ein bisschen entfernt davon.
Ein Tiny-House auf dem Gelände des Bauhaus-Archivs.
Ein Tiny-House in Deutschland.© picture alliance / dpa / Paul Zinken
Deutschlandfunk Kultur: Zwei Milliarden Euro, so steht es im Koalitionsvertrag, soll der Bund für sozialen Wohnungsbau in den nächsten Jahren ausgeben. Ist das genug?
Volker Busch-Geertsema: Ich glaube, dass es grundsätzlich ein Fehler war, das ist so ein bisschen wie bei der Bildung auch, bei der Bildung wird es ja jetzt wieder aufgehoben hoffentlich. Es war ein Fehler zu sagen, das geht exklusiv in die Zuständigkeit der Länder und der Kommunen. Ich finde, die Wohnungsversorgung, zumindest von den Benachteiligten, ist eine Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Der Bund muss da mithelfen. Die Länder und die Kommunen alleine schaffen das nicht. Da geht’s gar nicht so sehr um die Menge des Geldes, sondern es geht um die Frage, wie wird das Geld angewendet und wofür wird es ausgegeben.
Nochmal: Es ist nicht nur ein Mengenproblem, sondern für die Wohnungslosen ist es ein Zugangsproblem. Sie können in manchen Städten viele, viele Sozialwohnungen haben und die Wohnungslosen kommen schon deswegen nicht rein, weil die Mietobergrenzen bei Hartz IV zu gering sind, oder aber auch deswegen, weil die Wohnungsgesellschaft sagt: Nee, du hast mal Schulden gehabt und wir nehmen dich nicht. – Da braucht es andere Instrumente.

"Wohnungslose gehen oft nicht wählen - das ist ein Problem"

Deutschlandfunk Kultur: Die Wohnungslosen, wir haben am Anfang die Zahlen genannt, zwischen 800.000 und künftig vielleicht einer Million, das sind ja auch viele Wähler. Das sind Leute, die ja auch ihre politische Meinung entsprechend kundtun können. Welche Partei triff denn für sie ein?
Volker Busch-Geertsema: Na ja, wir wissen, dass viele der Wohnungslosen nicht wählen gehen. Das ist ein bisschen kompliziert, jedenfalls, wenn sie keine Adresse haben. Es gibt Möglichkeiten, aber viele nehmen das nicht wahr. Die haben andere Probleme, vorrangige Probleme, sich um ihr Überleben zu kümmern.
Das ist sicherlich ein Problem, dass es eine ganz relevante Wählerschicht für die Politik ist, aber es gibt ja doch auch schon Menschen, die sich dadurch anrühren lassen durch das Elend, was man zum Teil in den Straßen sieht. Und das ist ja nur immer die Spitze des Eisbergs. Die meisten Wohnungslosen sehen Sie ja nicht. Die sind in Unterkünften oder betreiben Sofahopping etc. Aber es sind ja jetzt mal so ein paar Sachen ziemlich in der Presse gewesen, in Berlin zum Beispiel die Menschen, die da in Zelten übernachtet haben.
Was immer noch gemacht wird, ist zu verhindern, dass Menschen erfrieren. Auch das gelingt ja offensichtlich nicht ganz. Es sind ja auch schon in diesem Winter wieder welche erfroren. Aber ich würde mal sagen, es braucht mehr als den Erfrierungsschutz.
Deutschlandfunk Kultur: Aber haben Sie keine Partei im Kopf, die für die Probleme von Wohnungslosen wirklich etwas tun könnte oder auch schon getan hat?
Volker Busch-Geertsema: Ich glaube, generell ist es inzwischen stärker beim Bund wieder angekommen. Eine ganze Zeit lang hat der Bund gesagt: Damit haben wir nichts zu schaffen. Wir wollen auch keine Wohnungslosenstatistik. Das ist alles Ländersache. Damit haben wir nichts zu tun. – Ich arbeite ja in einem Institut. Wir haben im letzten Jahr einen Forschungsauftrag bekommen, wie die Strategien bundesweit aussehen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit und zur Unterbringung. Das ist immerhin ein erster Schritt, also, Informationen zu sammeln.
Es gibt diese Bestrebungen, eine bundesweite Wohnungslosenstatistik einzuführen. Ich würde mich da gar nicht jetzt so festlegen auf eine Partei, sondern ich glaube, dass durchaus verrückterweise die Gruppe, die die Wohnungsnot zum einen verschärft hat, hat zum anderen auch dazu geführt, dass es viel mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist – nämlich die Geflüchteten und die Kriegsflüchtlinge. Die haben deutlich gemacht: Hier besteht ein großer Mangel und hier muss was getan werden.
Deutschlandfunk Kultur: Sehen Sie denn in Deutschland Beispiele, wo es schon gut gelingt?
Volker Busch-Geertsema: Es gibt sicher Unterschiede. Zum Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen hat ein Aktionsprogramm "Hilfen in Wohnungsnotfällen" schon seit vielen Jahren. Wir begleiten das fachlich. Das ist das einzige Bundesland, das so ein Aktionsprogramm hat. Das ist gar nicht so furchtbar viel Geld, aber die fördern immer einzelne Projekte, innovative Projekte, interessante Ansätze, jetzt sehr stark in diesem Bereich, wie man Wohnraum beschaffen kann. Wie kann man den privaten Wohnungsmarkt besser nutzen?
Auf der kommunalen Seite gibt es Städte, die darum gekämpft haben, Stadt ohne Obdach zu werden, also ihre Obdachlosenunterkünfte möglichst weitgehend zu reduzieren. Das war zum Beispiel in Herford der Fall, in Duisburg. In Köln gibt’s viele beispielhafte Ansätze, in München. Aber das sind natürlich auch Städte, die andererseits trotzdem hohe Wohnungslosenzahlen haben, weil sie Boomtowns sind weil sie begehrte Wohnungsmärkte haben, die sehr eng sind.
Es gibt aber auch Einzelbeispiele. Zum Beispiel die Stadt Stuttgart hat ein gutes Konzept, um den privaten Wohnungsmarkt besser zu nutzen. Die haben da inzwischen tausende von Wohneinheiten für wohnungslose Familien akquiriert in dem Bereich, weil sie den Vermietern anbieten, immer einen verlässlichen Ansprechpartner, aber auch Renovierungs-, Modernisierungshilfen.
Wir machen gerade so eine Praxishilfe für Kommunen und freie Träger in Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Sozialministeriums in Nordrhein-Westfalen. Da haben wir, glaube ich, jetzt so dreißig oder vierzig gute Beispiele gesammelt. Das wird dieses Jahr veröffentlicht. Und das geht dann quer durch. Da gibt es keine einzelnen Städte, die jetzt so rausragen, sondern da gibt’s immer wieder so kleine Leuchttürme in sehr verschiedenen Städten.

"Ich bin guter Dinge, Wohnungslosigkeit in Deutschland zu reduzieren"

Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie jetzt mit den verschiedenen Vertretern aus Städten gesprochen haben, was wäre denn ein Rat von Ihnen an die mögliche neue Regierung aus Union und SPD?
Volker Busch-Geertsema: Das, was ich schon gesagt habe: Zugang zu Normalwohnraum und dauerhaftem Wohnraum verbessern, ein gezieltes Programm, für diese Personengruppe Wohnraum zu schaffen. Das kann ja auch durch Umbau oder durch Nutzung von ehemaligen Bundesliegenschaften sein – diese Möglichkeiten nutzen. Dann gut informieren über die Möglichkeiten, Prävention deutlich besser zu organisieren. Da gibt’s auch ein paar Gesetzeshürden, die bearbeitet werden müssen. Das ist jetzt ein bisschen kompliziert für die Radiohörer, aber es gibt zum Beispiel in der Sozialhilfe die Mietschuldenübernahme als Beihilfe. Also, da kann man auch einen Zuschuss kriegen im SGB II. Für die Hartz-IV-Bezieher gibt’s das nicht. Und es gibt ein paar Sachen im Mietrecht, die geändert werden müssten.
Wir machen jetzt diese Untersuchung. Und wir werden am Ende dieser Untersuchung eine ganze Reihe von Empfehlungen – sowohl an den Bund als auch an die Länder und an die Kommunen – formulieren. Da wird die bessere Organisation, die konsequente Prävention eine ganz große Rolle spielen, aber auch der verbesserte Zugang zum normalen und dauerhaften Wohnen.
Deutschlandfunk Kultur: Was wäre Ihre Prognose? Wir haben gehört, in den 1990er Jahren sank die Wohnungslosigkeit. Jetzt steigt sie wieder. Was wäre Ihre Prognose für die nächsten vier Jahre?
Volker Busch-Geertsema: Ich bin nach wie vor guter Dinge, dass es gelingt, das besser im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass wir rauskriegen werden, dass die Zahlen nicht so unmöglich hoch sind, dass sie nicht bewältigbar sind, und dass es zumindest Einsicht auf vielen lokalen Ebenen gibt, dass der weitere Ausbau von Sonderwohnformen und nur von Unterbringungsmaßnahmen nicht der richtige Weg ist und dass man Wohnungslosigkeit in Deutschland tatsächlich, auch wenn im Moment die Zeichen nicht so danach stehen, reduzieren kann.
Es gibt zum Beispiel in Amerika, in Kanada große Kampagnen "Ending Homelessness". Da, würde ich sagen, sind die Deutschen von der Wohlfahrtssituation sehr viel näher an diesem Ziel als es in Amerika und in Kanada oder Australien der Fall ist, weil dort einfach die Schwierigkeiten, überhaupt Wohngeld zu kriegen und so, viel größer sind. Hier haben wir eigentlich viele Möglichkeiten, Wohnungslosigkeit zu vermeiden und Wohnungslose dauerhaft in Wohnraum zu bringen. Die müssen genutzt werden.
Dann wäre meine Perspektive nicht so schlecht, zumal die Zuwanderung ja jetzt wieder zurückgegangen ist. Also, diese Horrorszenarien, dass wir Millionen Menschen ohne Wohnung kriegen, das ist, glaube ich, übertrieben. Aber es muss ein politischer Wille da sein. Wenn der nicht da ist, dann werden die Zahlen weiter steigen.

Volker Busch-Geertsema forscht seit 1991 an der "Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V." in Bremen. Im schottischen Edinburgh lehrt der Sozialwissenschaftler seit 2015 als Honorarprofessor an der "Heriot Watt University" und seit 2009 ist er Koordinator und Mitherausgeber des "European Journal of Homelessness". Dazu hat er diverse Bücher zu Obdach- und Wohnungslosigkeit veröffentlicht.

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