Soziologe: Sich Gott basteln

Moderation: Dieter Kassel · 31.07.2008
Der Soziologe Ulrich Beck definiert Religiosität, im Unterschied zu Religion, als eine subjektive Form des Glaubens. Vor allem Menschen in Europa und Amerika mit hohem Bildungsgrad neigten immer mehr dazu, sich ihren eigenen Gott aus einem "spirituellen Baukasten" zusammenzustellen. Sie sähen sich nicht mehr verpflichtet, der Kirche zu folgen.
Dieter Kassel: Es gibt in unserer Gesellschaft eine Rückkehr der Religion. Das ist nicht nur herbeigeredet. Gleichzeitig ist aber auch sicher wahr, dass die Kirchen immer leerer werden und die großen Kirchen, die evangelische und die katholische, in Deutschland Mitglieder verlieren. Ein Trend, der da ist und der anhält. Für den Soziologen Ulrich Beck ist das allerdings bei längerem Nachdenken kein solcher Widerspruch, wie es zunächst zu sein scheint. In seinem Buch "Der eigene Gott: Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen" erklärt er das mit dem signifikanten Unterschied zwischen Religion und Religiosität. Aber zuerst einmal schönen guten Morgen, Herr Beck!

Ulrich Beck: Guten Morgen!

Kassel: Erklären Sie uns das! Was ist denn für Sie dieser wichtige Unterschied zwischen Religion und religiös?

Beck: Religion ist das Bild des Glaubens und auch das Bild Gottes, das die organisierten Kirchen vorgeben, das auch eingebunden ist in bestimmte Dogmen, in bestimmte Praktiken. Religiosität ist das, was die Individuen daraus machen, ist die subjektive Form des Glaubens, ist der Hinweis darauf, dass inzwischen viele Menschen ihre Form, ihre Vorstellung von Transzendenz und ihre Vorstellung auch von Religiosität bis zu einem gewissen Grad selbst basteln, sozusagen aus einem spirituellen Baukasten, den sie sich aus verschiedenen religiösen Traditionen zusammensetzen und in dem sie ihr eigenes Gottesbild, eben ihren eigenen Gott zusammenstellen, dem sie sich verpflichtet fühlen.

Kassel: Das Interessante ist nun, dass diese Tendenz, sich aus einem Baukasten das zu holen, was man will und seinen eigenen Gott zu basteln, ja, das ist mein Eindruck, sie beschreiben das auch in dem Buch, sehr verbreitet ist bei Menschen, die einen hohen Bildungsgrad aufweisen, die zum Teil Wissenschaftler sind. Das sind doch eigentlich genau die, von denen auch Sie glaube ich bis vor wenigen Jahrzehnten, wie viele Kollegen geglaubt haben, aus deren Leben wird Religion vollkommen verschwinden.

Beck: Ja, das ist die Grundvorstellung der Modernisierungssoziologie, die von den Klassikern ausgehend bei Max Weber, aber auch eigentlich alle anderen, weitgehend davon ausging, dass Religion sozusagen mit zunehmender und fortschreitender Modernisierung an Bedeutung verliert und letzten Endes damit auch ein Phänomen ist, das nicht existenziell und dauerhaft mit dem Modernisierungsprozess verbunden ist, sondern sozusagen in seiner Bedeutung verblasst. Genau das Gegenteil kann zumindest bis zu einem gewissen Grade heute festgestellt werden. Auf der einen Seite, wie Sie schon gesagt haben, das Leeren der Kirchen, die Vorstellung, dass immer mehr Menschen eigentlich nicht mehr ohne Weiteres auch sich verpflichtet sehen, den Glauben, den die Kirche vorgibt, selbst zu praktizieren. Wir haben Untersuchungen, dass selbst diejenigen, die gleichsam professionell diesen Glauben verkünden, viele der Glaubenssätze nicht mehr für richtig oder verbindlich halten, aber gleichzeitig weltweit eine der größten Phasen in der Missionierungserfolgsgeschichte der katholischen Kirche und teilweise auch der evangelischen Kirche, große Bereiche etwa Südamerikas, aber auch Afrikas und Asiens werden geradezu neu in die katholische Kirche oder auch in Formen des Protestantismus hineingezogen.

Kassel: Einerseits schon, andererseits erleben wir doch gerade auch in Südamerika zum Beispiel große Erfolge der evangelikalen Bewegungen, was ja nun wiederum etwas ist, was den klassischen evangelischen und der katholischen Kirche eher Konkurrenz macht.

Beck: Ja, das ist richtig. Aber gerade diese evangelikalen Bewegungen geben in gewisser Weise sozusagen das wieder und praktizieren das, was Max Weber schon vor Augen hatte, nämlich einen Protestantismus, der verbunden ist überraschenderweise und intensiv mit wirtschaftlichem Erfolg und wirtschaftlichem Wachstum, gleichzeitig auch neue soziale Anliegen zur Geltung bringt, und aber, und das ist das Interessante, sich zugleich transnational über nationale Grenzen hinweg zu vernetzen weiß. Also hier eine Art von Konservativismus, ja man muss sogar sagen teilweise Fundamentalismus, der aber eben Individualisierung auf der einen Seite aufgreift und auf der anderen Seite in ein dogmatisches System des Glaubens über nationale Grenzen hinweg einbindet.

Kassel: Kommen wir noch einmal kurz darauf zurück, warum gerade hoch gebildete Menschen zum Teil, und da überrascht es mich am meisten, Naturwissenschaftler offenbar das dringende Bedürfnis nach Spiritualität, nach Glauben haben. Warum ist das so?

Beck: Das ist schwer zu erklären. Es ist aber gleichzeitig interessant, dass offenbar die Modernisierung inzwischen in eine Phase eingetreten ist, in der sie ihre eigenen Grundlagen, ihre eigenen Bezugssysteme in Frage stellt, in der man nicht mehr davon ausgehen kann, wie das zum Beispiel ja Marx noch versucht hat, der modernen Gesellschaft ein bestimmtes Ideal, eine bestimmte Utopie vorzugeben, sondern ganz im Gegenteil eigentlich mit der fortschreitenden Modernisierung auch die Wissenschaft, auch die Rationalität immer vielstimmiger wird, nicht weil sie schlecht ist, sondern weil sie gut ist, insofern also keine Sicherheiten mehr bietet. Und genau diese zunehmende Unsicherheit scheint auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Transzendenz und nach einer Art von Transzendenz hervorzubringen, die Elemente kombiniert, die gerade für die fortgeschrittene Moderne wichtig ist. Nämlich Individualität, Freiheit, aber eben gleichzeitig auch ein Bezug in die Religiosität.

Kassel: Wenn wir mit den Begriffen Individualität und Freiheit auch im Sinne von Wahlfreiheit, was die eigene Religiosität angeht, jetzt wieder bei dem eigenen Gott gelandet sind, steuern wir denn auf eine Welt zu, in der es so gesehen irgendwann mal, je nach Bevölkerungsentwicklung, sieben, acht oder neun Milliarden Götter geben wird?

Beck: Das ist eine interessante Frage. Die Individualisierung der Religion kann leicht missverstanden werden. Es ist nicht so, dass jeder jetzt seinen ursprünglichen und authentischen eigenen Gott konstruiert. Tatsächlich können wir erkennen bei den Untersuchungen, die wir haben, dass diese Individualisierung auch mit einer Standardisierung einhergeht. Das, was die Menschen sozusagen als ihr authentisches, eigenes Produkt ansehen, ist tatsächlich häufig eine Kombination und weitgehend auch sich wiederholende Kombination von religiösen Elementen, die auch in den Weltreligionen vorgegeben sind. Es wird also sozusagen eine Kombinatorik geben, aber gleichzeitig auch eine Standardisierung. Und das Interessante ist aber, dass dieser Prozess sozusagen der kollektiven, neuen, individuellen Konstruktionen des eigenen Gottes als solche häufig für die Menschen nicht mehr durchschaubar ist. Sie erkennen nicht ihre eigene kollektive Form in der Art, wie sie ihren eigenen religiösen, ihre eigenen religiösen Praktiken entwickeln.

Kassel: Das heißt, die Leute glauben, sie hätten einen eigenen Gott, der auch ein Unikat ist, aber dem ist dann oft nicht so.

Beck: So ist es.

Kassel: Was bedeutet das nun aber weltweit? Denn Ihr Buch hat ja nun durchaus auch den Untertitel, der sicherlich ganz wichtig ist: "Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religion". Wenn wir uns vorstellen, wir haben eine Welt, wir kommen vielleicht gleich noch zu Unterschieden im Moment, was die Entwicklung angeht in unterschiedlichen Gesellschaften, aber wir haben eine Welt, in der diese Form der Religiosität dominiert, der, mehr oder weniger, eigene Gott. Ist das dann eine friedlichere Welt?

Beck: Zunächst einmal muss man aufpassen. Es ist eher, diese Art der individualisierten Religiosität, ist eher ein Phänomen, das für Europa, großen Teils auch für Amerika, gilt. Die anderen Regionen der Welt sind davon teilweise erfasst, aber nicht im selben Ausmaß. Wichtig ist zunächst für mich zu erkennen, und das war auch eine der Faszinationen, die ich erst beim Buchschreiben so richtig realisiert habe, ist, dass Religionen prinzipiell ein Doppelgesicht haben. Auf der einen Seite ermöglichen sie eine Form von Gesellschaft und Gemeinschaft über die Grenzen hinweg, die wir eigentlich für unerbittlich halten, nämlich Nationen, Ethnizität, Klassen, und so weiter, und so fort, auf dem Grundsatz des "ich glaube" wird sozusagen eine neue Gemeinschaft aufgebaut. Auf der anderen Seite ist genau dieser Grundsatz "ich glaube" die Voraussetzung wiederum dafür, dass die Welt gespalten wird, nämlich in die Richtig- und die Falsch-Gläubigen. Und diese Spaltung zieht sich ja als Blutspur auch durch die Geschichte hindurch und wird heute daher so brisant, weil plötzlich eben in dem weltweiten Kommunikationsraum, in dem wir inzwischen leben, diese unterschiedlichen Wahrheits- und Gewissheitsvorstellungen der Religion und die Stereotypen, die damit verbunden sind, aufeinandertreffen.

Kassel: Kann nicht, entschuldigen Sie, wenn ich da sofort einhake, dieses Problem, darauf wollte ich hinaus, mit dem was ich vorhin schon mit den Unterschieden meinte, viel größer werden, wenn ich mir ein Westeuropa vorstelle, das schon sehr weit fortgeschritten ist mit dem Prozess der Eigengott-Findung, wie ich das jetzt mal nenne. Und demgegenüber steht ein Großteil der Welt mit Muslimen, die zumindest glauben, sie würden zu Millionen, zu Hunderten Millionen an den gleichen Gott glauben. Ist für die nicht jemand mit einem eigenen Gott erst Recht ein Ungläubiger?

Beck: Ja. Aber das gilt umgekehrt genauso. Ich meine, die Religionen sind, das muss man sich erst mal vorstellen und auch selbst noch mal an sich selbst auch nachvollziehen, mit der Einbindung in eine bestimmte Religion ist man zunächst einmal auch in ein gewisses Gegenbild, manchmal sogar Feindbild, jedenfalls entsprechende Stereotypen, auf die anderen Religionen bezogen. Die Individualisierung unterläuft das zum Teil, man muss allerdings aufpassen, inwieweit das tatsächlich zutrifft, in dem Sinne, dass nun ja über Grenzen von Religionen hinweg der eigene Glaube Teil sozusagen verschiedener religiöser Traditionen wird. Das kann unter bestimmten Umständen tatsächlich öffnen für die verschiedenen Religionen. Es kann aber auch, wie wir erkennen können beispielsweise an den religiös-fanatistischen Terroristen dazu führen, dass der eigene Gott, also der direkte Draht zu Gott, auch eine moralische Rechtfertigung oder Scheinrechtfertigung, für terroristische Attentate gibt.

Kassel: Was folgt nun, im Nahbereich gesehen jetzt, für Krieg und Frieden? Wir haben eine Debatte in den USA auch, aber auch hier in Europa, auch in Deutschland darüber, ob als Reaktion auf die empfundenen, nenne ich es jetzt mal, Bedrohungen des Islamismus wir eher dieses christliche Abendland stärken sollen, eher wieder katholisch und evangelisch denken, oder ob die richtige Antwort auf Islamismus eher der Atheismus ist. Was Ihren eigenen Gott angeht, die Theorien in Ihrem Buch, was würden Sie denn raten?

Beck: So einfach ist, glaube ich, keine Formel zu finden.

Kassel: Das wollen aber die Politiker gerne haben.

Beck: Das wollen die Politiker gerne haben. Ich glaube, eine der Varianten, die in der öffentlichen Diskussion gar nicht präsent ist, die aber untergründig vielleicht in der Praxis der Gemeinden vor Ort sehr viel stärker lebendig ist, als wir das uns in der Theorie vergegenwärtigen, ist folgende Konstruktion: Auf der einen Seite hat man über verschiedene Religionszugehörigkeiten die Gemeinsamkeit des Glaubens. Man erkennt sich wechselseitig als Glaubende an und praktiziert das auch entsprechend. Gleichzeitig weiß man um die Unterschiede und die Gegensätze und in solchen Millieus ist es durchaus möglich, die eigene Religiosität auch mit den Augen der anderen zu sehen. Und eine solche sozusagen, wie man sagen könnte, methodische Konversion erlaubt es, wie wir auch in der Religionsgeschichte rekonstruieren können, sozusagen nicht nur die eigene Religion zu vernachlässigen, sondern sie möglicherweise in einem neuen Licht zu sehen und auch damit stärker und nachhaltiger zu praktizieren. Also es ist nicht eine Ausschließlichkeitsvorstellung zwischen den Religionen, die häufig vorgegeben wird, das ist natürlich eine dominante Richtung, sondern auf der Ebene der alltäglichen religiösen Praktiken und der gemeinsamen Arbeit in Gemeinden kann sich auch so etwas wie eine solche kosmopolitische Perspektive der wechselseitigen Identifizierung herausbilden.

Kassel: Der Soziologe Ulrich Beck über die Rückkehr der Religiosität, wenn auch vielleicht nicht immer der Religion, und was für Folgen das haben könnte. Sein Buch zu diesem Thema "Der eigene Gott" ist im Verlag der Weltreligionen erschienen und kostet 19,80 Euro. Herr Beck, ich danke Ihnen!

Beck: Ich danke auch!