Soziologe: 9/11 hat US-Nationalbewusstsein erschüttert

Norman Birnbaum im Gespräch mit Susanne Führer · 09.09.2011
Der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum spricht darüber, welche Folgen die Terroranschläge für das intellektuelle Klima in den USA hatten – und er zieht Vergleiche zu Pearl Harbor.
Susanne Führer: Übermorgen jähren sich die Anschläge vom 11. September 2001, zum zehnten Mal. An diesem Tag wird in den USA sicher wieder die Einheit der Nation beschworen werden, aber jenseits der Gedenkreden wirkt das Land auf viele Beobachter gespalten und auch verunsichert wie lange nicht. Zu Gast im Deutschlandradio Kultur ist nun der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum, er gehört zu den großen linken Intellektuellen der USA. Herzlich Willkommen hier im Funkhaus, Herr Birnbaum!

Norman Birnbaum: Danke!

Führer: Das politische Klima in den USA ist zurzeit ja offenkundig sehr rau, also wir haben das so ein bisschen verfolgen können, als der Streit um die Schuldengrenze tobte da, zwischen Republikanern und Demokraten, da hat die Tea-Party-Bewegung den Ton ja offenbar doch sehr verschärft. Aber jenseits dieser politischen Auseinandersetzung in Washington, wie ist denn das intellektuelle Klima in den USA?

Birnbaum: Ja, nicht sehr gut, im Sinne dass ein Teil von den alten Konservativen sagen, wir können dieses Weltreich nicht mehr leisten, wir brauchen nicht (…) Libyen, nach Irak, nach Afghanistan zu bringen. Viele von denen glauben mit Recht, dass sowieso unsere Demokratie kein Exportmodell ist, es funktioniert nicht so glänzend bei uns. Aber in jedem Fall sagen die, dass wir müssen diesen imperialen Größenwahn zurückschrauben.

Führer: Das heißt also, die Anschläge vom 11. September haben das intellektuelle Klima nicht verändert?

Birnbaum: Die haben ein Klima nur verändert insofern als mehr Leute glauben, etwas vom Islam zu wissen. Es hat ein breites Feld eröffnet für Scharlatanerie von allerhand Leuten, die sich als Terrorexperten, Islamexperten und so weiter ausgeben, aber im Grunde ist das das alte Argument über unsere Stellung in der Welt – Modell für andere oder Problem für uns selber sozusagen.

Führer: Ich würde gerne noch mal bei den Anschlägen bleiben. Es gibt ja viele, die sagen, das habe den USA gezeigt, dass sie verwundbar sind, im Grunde genommen ein Ähnliches Trauma wie Pearl Harbor.

Birnbaum: Ja.

Führer: Hat sich das auch insgesamt auf die Diskussion, auf das geistige Klima ausgewirkt?

Birnbaum: Ja, als Hintergrund – Pearl Harbor war was anderes, das war eine Militärfestung, weit weg im Pazifik. Aber dieser Terrorangriff in New York und im Fernsehen zu machen, das war was wirklich anderes. Es hat das Nationalbewusstsein, glaube ich, für alle Schichten am tiefsten schockiert. Wie die Leute darauf reagiert haben, war dann eine ganz andere Sache. Zum Beispiel meine Freundin Susan Sontag hat gleich danach gefragt: Ja, lassen wir uns fragen, wieso das kommt – und es gleich niedergeschrien, weil das schon patriotisch war.

Führer: Der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001. Herr Birnbaum, Ende 2008 wurde Barack Obama zum Präsidenten der USA gewählt, Anfang 2009 hat er dann diesen Posten auch eingenommen. Fast die ganze Welt schien ja froh zu sein, dass jetzt endlich wieder ein Demokrat an der Spitze der USA steht. Wie ist eigentlich die Wende, die erhoffte, die erwartete Wende in der US-amerikanischen Politik unter Obama im Vergleich zur Bush-Zeit ausgefallen?

Birnbaum: Ja, viele – ich gestehe, ich gehöre dazu – viele sind enttäuscht. Er ist zwar ein Demokrat, aber etwas ein, sagen wir, zentristischer Demokrat, ein Demokrat nach dem Muster von Bill Clinton, die Demokraten, die ja eher eine technokratische Färbung haben. Er vertritt mehr, sagen wir, Harvard Law School, wo er studiert hat, als die Chicagoer Elendsviertel, wo er gearbeitet hatte. Und wenn man seine frühere Autobiografie liest, "Dreams of my Father" ("Träume von meinem Vater"), findet man zwei Dinge, die ich als wichtig betrachte. Zunächst hat er gesagt, er bewundert die alten schwarzen Pastoren in den Kirchengemeinden, in den nicht sehr wohlhabenden Vierteln von Chicago, weil die wenigstens ihrer Leute Trost gespendet haben, weil die konnten nicht mehr viel mehr für die tun.

Und dann hat er gesagt, ja, in Harvard hat er gelernt, dass unser juristisches System wäre da, um die Verlierer zu trösten – so ist es, es kann nicht anders sein. Aber gelegentlich konnte man irgendwas machen. Das ist kaum Josuas Trompete, die zum Ansturm auf das neukapitalistische Jericho gerufen hat. Der Mensch ist innerlich mit sich selbst offensichtlich im Reinen, der ist ein technokratischer Streber, der es weit gebracht hat. Der hat ein gutes Maß an persönlichem decency, Anstand, aber seine Politik lässt viele Zweifel offen.

Führer: Aber wenn wir jetzt noch mal Obama zusammendenken mit den Anschlägen – Sie haben gesagt, Susan Sontag sei niedergeschrien worden, als sie gesagt hat, wir müssen uns fragen, warum es dazu gekommen ist: Hat sich diese Diskussion unter Obama doch vielleicht verändert, die intellektuelle Diskussion über den Terror, also über die Ursachen, die Folgen, die Prävention?

Birnbaum: Es hat, aber das ist eher gegen die Obama-Regierung als mit der Obama-Regierung. Zwar sind gewisse Befürworter von Menschenrechten in die Regierung gegangen, und wie für gewöhnlich unglaublichen außenpolitischen Bürokratie spurlos verschwunden. Obama hat den Afghanistan-Krieg fortgesetzt, den Irak-Krieg ein bisschen, mehr als ein bisschen zurückgeschraubt, obwohl mit sogenannten Kontrakten.

Führer: Also Söldnerarmeen.

Birnbaum: Es wird eine große amerikanische Präsenz, wir kämpfen in Afghanistan, wir sind in einer Art kleinem Krieg täglich mit Pakistan, weil wir denen Drohnen schicken, auch wenn die Pakistaner dieses nicht wollen, Geheimdienste operieren im Iran – da ist kein allzu großer Rückzug oder alternative Politik zu bemerken.

Führer: Das klingt so, als habe sich gar nichts geändert, Herr Birnbaum, aber wenn ich jetzt noch mal an das Klima denke – George Bush hat damals von einem Kreuzzug gesprochen, von einer Achse des Bösen, Obama hat seine große Rede in Kairo gehalten im Jahr 2009, wo er sich um eine Annäherung, eine Versöhnung mit der muslimischen Welt bemüht hat –, das sind doch große Unterschiede, oder?

Birnbaum: Das sind Unterschiede, aber Sie müssen wissen, dass unsere außenpolitische Bürokratie hat sein Eigenleben. John Kennedy hat einmal gesagt zu jemandem, Sie haben mich überzeugt, jetzt müssen Sie die Regierung überzeugen – als er im White House war. Er hat einen Sinn dafür. In Ägypten hatten wir etwa drei gleichzeitige politische Linien, gefolgt am Anfang von der Revolution, abzuwarten, Mubarak zu ermutigen zu gehen und Mubarak beizubehalten, solange wir keine Garantien hatten, dass die falschen Leute an die Macht kommen würden.

Die ägyptische Revolution ist interessanterweise ausgebrochen, als die gesamte ägyptische Militärführung im Pentagon war für seinen Jahresbesuch. Also, das State Department hat eine Politik, der Pentagon eine andere, oft im White House eine dritte und Congress oft eine vierte. Und ein Präsident, der nicht über absolute Mehrheiten verfügt, muss manövrieren. Das hat Obama gemacht, aber Manövrieren und große Reden sind kein Ersatz für eine stetige Politik.

Führer: Seit dem 11. September 2001 sind ja andere große schreckliche islamistische Terroranschläge verübt worden, aber nicht mehr in den USA, sondern in anderen Ländern der Welt, trotzdem hat man von außen den Eindruck – vielleicht stimmt es nicht –, dass die USA, dass die Bürger in den USA weiter in Angst vor dem Terror leben und dass sich das vermengt mit – was ja eigentlich gar nichts damit zu tun hat – mit der Immobilienkrise, der Finanzkrise, der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, so als ginge die Angst um vor einem American Decline, also vor dem Untergang der USA.

Birnbaum: Ja, zunächst sind die Leute im Moment am meisten besorgt über ihre Wirtschaftslage. Neun Prozent Arbeitslosigkeit, die in EU-Rechnungen wird näher 13 oder 14 Prozent, das muss man sehen. Denn das bedeutet, dass andere Leute haben Angst um ihre Stellung, wenn die immer noch Arbeit haben. Aber diese Angst über Decline, über ...

Führer: Abstieg ...

Birnbaum: ... Abstieg, nicht wahr. Das ist ernst, und das wird geschnürt gerade von den Leuten, die imperiale Posten sind – Berufsoffiziere, unsere Bürokratie, die 10.000 Professoren, die davon leben, unser Weltreich aufrechterhalten können und so weiter. Diese Leute sind die tatsächlichen Gewinner von unserer Weltlage, die anderen Leute, die Steuern zahlen und (…) wirklich arm sind oder zu Minderheiten gehören, dessen Kinder notgedrungen in die Armee gehen, die sind die Verlierer. Und die sind jetzt zunehmend, ich würde sagen nicht gegen diese Weltreichstellung, aber indifferent. Überoft haben die Leute es einfach satt, nicht wahr. Nichts ist geschehen, aber ein anderes erfolgreiches Attentat während des Wahlkampfs wird verheerende Folgen für Obama haben.

Führer: Sagt der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch bei uns, Herr Birnbaum!

Birnbaum: Danke!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu
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