Sozialstaatsdebatte

Ist Deutschland gerechter, als wir meinen?

Viele Menschen stehen an einer Bushaltestelle.
Menschen aus verschiedenen Generationen stehen an einer Bushaltestelle: Deutschland ist viel gerechter, als wir denken, meint Georg Cremer. © imageBROKER
Georg Cremer im Gespräch mit Dieter Kassel · 08.10.2018
Nostalgisch verklärten wir den Sozialstaat der ersten Nachkriegsjahrzehnte, kritisiert der frühere Caritas-Generalsekretär Georg Cremer. Dem Gerede vom permanenten Sozialabbau hält er sein neues Buch entgegen: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen".
Spätestens seit der Einführung von Hartz IV scheint für viele die Sache klar zu sein: Deutschland befindet sich in einem Prozess des permantenten Abbaus von Sozialleistungen.
Dem Ökonom Georg Cremer zufolge, von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Caritas-Verbandes, ist diese Annahme schlicht falsch.
Zum Beispiel im Gesundheitswesen: "Wir haben weiterhin ein Gesundheitssystem, das alle Bürger versichert, alle Bürger behandelt", betonte Cremer im Deutschlandfunk Kultur. Die vielzitierte Kostenexplosion sei in Wahrheit faktisch eine Leistungsexplosion: "Das, was sinnvoll machbar ist, ist aufgrund des medizinischen Fortschritts deutlich mehr, als wir früher an Leistungen hatten."
Georg früherer Generalsekretär der Caritas, Volkswirtschaftsprofessor und Buchautor
Georg Cremer, früherer Generalsekretär der Caritas, Volkswirtschaftsprofessor und Buchautor© Anke Jacob
Auch im Bereich der Pflege sei früher keineswegs alles besser gewesen: "Wir vergessen heute, wie die Verhältnisse in der Pflege waren, bevor die Pflegeversicherung eingeführt wurde", sagt Cremer, dessen Buch "Deutschland ist gerechter, als wir meinen" am 9. Oktober erscheint. "Wir hatten enorme Wartelisten, man war extrem abhängig, irgendwo einen Heimplatz zu finden für die alten Eltern. Pflegende Angehörige sind praktisch nicht unterstützt worden. Heute haben wir eine Infrastruktur, die das tut."

Reale Verbesserungen wie der Mindestlohn werden ignoriert

Wenn dennoch immer die Rede vom Rückzug des Sozialstaates sei, unterstütze das zum einen die Demagogie populistischer Kräfte, dass "die" Politiker sich um die Belange des Volkes nicht kümmerten, warnt der frühere Caritas-Generalsekretär.
Zum anderen würden reale Verbesserungen gar nicht mehr als solche wahrgenommen, wie etwa die Einführung des Mindestlohns: Diesen habe die SPD gegen massive Widerstände durchgesetzt und damit trotzdem nicht beim Wähler punkten können.
"Deutschland ist gerechter, als wir meinen", so Cremer. "Das heißt aber nicht, dass es nicht gerechter werden könnte. Nur dazu brauchen wir eine Öffentlichkeit, die die Veränderungen, die Politik ja durchaus macht und über die diskutiert wird, wirklich auch im Detail wahrnimmt und nicht jede Besserung in einem Gejammer über den an sich zerfallenden Sozialstaat untergeht."
(uko)

Georg Cremer: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme"
München 2018, Verlag CH Beck
272 Seiten, 16,95 Euro

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