Sozialphilosoph Charles Taylor

Die Heimtücke der Demagogen

32:12 Minuten
Charles Taylor sitzt auf einer Bühne und unterhält sich mit einem Moderator.
Demokratie braucht Bürgersinn: Charles Taylor warnt davor, dass die Interessen von Gruppen oder Einzelnen auf Kosten der Gemeinschaft gehen. © Getty Images / Jason Carter Rinaldi
Moderation: Christian Möller · 30.06.2019
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Aufgehetzt? Abgehängt? Durch Konsumversprechen abgelenkt? Weshalb verlieren so viele Menschen das Vertrauen in die Demokratie? Der kanadische Philosoph Charles Taylor möchte dieses Vertrauen stärken, um Politik nicht den Populisten zu überlassen.
Charles Taylor weiß um die Gefährdungen der Demokratie. Ein Lebensthema des international renommierten Sozialphilosophen betrifft die Frage, wie ein demokratischer Staat die divergierenden Interessen einzelner Gruppen berücksichtigen kann, ohne dass der Zusammenhalt der Gesellschaft dabei verlorengeht.

Minderheitenschutz für Kulturen

1931 als Sohn eines englischsprachigen Vaters und einer französischsprachigen Mutter in Montreal geboren, hat Taylor das Zusammenleben verschiedener Kulturen im Einwanderungsland Kanada von Kindheit an erlebt. Als er sich schon zu Beginn der 1990er-Jahre intensiv mit dem "Multikulturalismus" auseinandersetzte und für die "kulturelle Selbsterhaltung" gesellschaftlicher Minderheiten eintrat, hatte er besonders die Situation von Frankokanadiern und First Nations im Blick.
Als Gast der Berliner Humboldt-Universität sprach Charles Taylor an drei Abenden im Juni über die Krise der Demokratie. Dass das Vertrauen in den parlamentarischen Rechtsstaat derzeit weltweit unter Druck gerate, habe eine Reihe verschiedener Gründe, sagt Taylor im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.

Staaten mit demokratischer Fassade

Autoritäre Staaten wie Russland, Ungarn oder die Türkei seien zwar nicht vergleichbar mit den totalitären Regime des frühen 20. Jahrhunderts, so Taylor, ihre Strategien funktionierten dafür aber umso heimtückischer: "Es gibt so etwas wie demokratische Wahlen, man lässt in gewisser Weise auch noch oppositionelle Medien zu, aber der Staatsapparat hat bereits Fakten geschaffen, etwa im Justizsystem, so dass die Opposition eigentlich nie gewinnen kann." Wer sich nicht politisch engagiere, werde dort weitgehend in Ruhe gelassen, aber die ständige latente Bedrohung bedeute für diese Gesellschaften den "Tod der Demokratie".
Aber auch in den Demokratien des Westens sieht Charles Taylor das politische System in der Krise: Viele Menschen verlören das Vertrauen in die Demokratie, weil politische Entscheidungen aus ihrer Sicht "immer undurchsichtiger" würden. Eine weitere Gefahr entstehe, wenn von Demagogen zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse unterschieden werde: "Wenn sie zum Beispiel behaupten, die Eliten würden sich nur noch für die Migranten interessieren und nicht mehr für die Probleme des einfachen Volkes. Das ist ja etwas, was Donald Trump beispielsweise macht."

Migranten als Sündenböcke

Charles Taylor sieht die wesentliche Ursache dafür in verfehlter Wirtschaftspolitik: "Wenn wir uns den Nordosten Frankreichs anschauen, dort ist die Industrie abgewandert, für viele hat sich die Lebenssituation verschlechtert, und gleichzeitig haben die Leute das Gefühl, dass sich keiner um sie kümmert, weil es seit 2008 diese Austeritätspolitik gegeben hat und keiner einen Plan hatte, wie man diesen Regionen helfen könnte. Also sind andere auf den Plan getreten: Demagogen, rechtsextreme Parteien, die Migranten verantwortlich machen für den wirtschaftlichen Abschwung. In gewisser Weise haben wir diesen Leuten den Weg geebnet, weil wir nichts dagegengesetzt haben."
Taylor hat sich in seinen Schriften wiederholt gegen einen falsch verstandenen Individualismus moderner Gesellschaften gewandt. Eine Auffassung des Individuums als "punktförmiges Selbst", das ausschließlich im eigenen Interesse handelt und Allianzen nur eingeht, um diese Interessen durchzusetzen, hält er für abwegig und schädlich. Ein solches Menschenbild führe zu einem "Atomismus", der jeden gesellschaftlichen Zusammenhalt zersetze, warnt Taylor: "Diese Haltung macht Solidarität unmöglich. Aber eine Demokratie braucht die Solidarität, um zu funktionieren."

Wurzeln in der Zukunft

"Wir müssen lernen, Wurzeln in der Zukunft zu schlagen", schrieb Charles Taylor einmal. Eine gewisse Hoffnung, dass dies gelingt, schöpft der Philosoph aus den weltweiten Protesten der "Fridays for Future"-Bewegung. "Diese Leute erteilen uns wirklich eine Lektion", sagt Taylor. "Über verschiedenste Länder und Kulturen hinweg versuchen sie, zusammen etwas Besseres aufzubauen. Das macht mir Hoffnung, dieser Wunsch, die Dinge zu verändern und zusammenzuarbeiten, auch wenn man vielleicht unterschiedliche Ansichten hat. Und die jungen Leute machen das sehr gut, obwohl wir Alten streckenweise wirklich auf sie einprügeln."
Hier können Sie das Gespräch auf Englisch hören:
(fka)

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