Sozialphilosoph Axel Honneth zur EU-Flüchtlingspolitik

Warum Abschottung keine Lösung ist

In der Kategorie "General News" gewann der russische Fotograf Sergey Ponomarev den World Press Photo Award für ein Bild eines Flüchtlingsbootes vor den griechischen Inseln.
Flüchtlingsboot vor den griechischen Inseln: "Tiefgreifender Wandel im Freiheitsverständnis Europas" © dpa/World Press Photo/Sergey Ponomarev
Axel Honneth im Gespräch mit Simone Miller · 08.07.2018
Die Europäische Gemeinschaft leidet an den Folgen eines entfesselten Kapitalismus, sagt der Sozialphilosoph Axel Honneth. Er plädiert für die Rückbesinnung auf ein soziales Verständnis von Freiheit.
Im Streit um eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik steht die Idee eines offenen Europas zunehmend in Frage. In vielen Staaten erstarken Parteien, die auf nationale Abschottung setzen. Axel Honneth, Philosoph, Soziologe und die derzeit wichtigste Stimme der Frankfurter Schule, beobachtet mit Sorge, "dass innerhalb Europas eine rechtsstaatliche, mit den Genfer Konventionen übereinstimmende Flüchtlingspolitik kaum mehr durchsetzbar scheint."

Marktkonforme Freiheit

Der Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung sieht die tieferen Ursachen dafür in einem tiefgreifenden Wandel im Freiheitsverständnis Europas. Aus Honneths Sicht orientierte sich die europäische Einigung zunächst an einem sozialstaatlichen Modell. Mit der Deregulierung der Finanzmärkte und infolge der Arbeits- und Sozialreformen von Margaret Thatcher bis zu Gerhard Schröder sei dieses Leitbild einer völlig anderen Auffassung von Freiheit gewichen:
"Das war ein tiefgreifender Umschwung, dessen Wirkung ich damals – viele andere, glaube ich auch – gar nicht richtig überblickt habe. Ich glaube, was stattgefunden hat, ist ein Umbruch im kulturellen Selbstverständnis Europas von der Idee der sozialen Freiheit – wir sind füreinander da, und wir sind auch nur frei, wenn der andere, die Chance zur Freiheit hat – zu einem extrem individualistischen, marktkonformen Konzept von Freiheit – der Einzelne ist auf sich allein gestellt; ist für sein Schicksal allein verantwortlich."

Festung Europa oder ein gemeinsamer Sozialstaat?

Axel Honneth entwirft in seinem jüngsten Buch eine europäische Ideengeschichte der Anerkennung. Auch den Streit um Asyl und Migration deutet er als einen Anerkennungskonflikt, in dem gegensätzliche Zielvorstellungen für ein geeintes Europa miteinander konkurrieren. Derzeit sei das Konzept einer "Festung Europa leider das vordringende Modell". Honneth hält mit dem Philosophen Jürgen Habermas dagegen, dass die Aufgaben, vor denen die Union steht, sich nicht durch Abschottung lösen lassen:
"Ich bin – auch als Intellektueller – davon überzeugt, das darf und kann nicht alles gewesen sein. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass weiterhin diejenigen Parteien unser Schicksal und den Kurs der Europäischen Union bestimmen, die stark an einem integrierten und wohlfahrtsstaatlichen Europa interessiert sind"

Wie sind die nationalen Abschottungs-Tendenzen populistischer Parteien in vielen Ländern Europas zu erklären? Welche Antworten hat die Sozialphilosophie auf die Verwerfungen des globalisierten Marktes und ungesicherter Arbeitsverhältnisse? Und welche Perspektiven eröffnet Jürgen Habermas als Vordenker eines vereinigten Europas? Auch über diese Fragen haben wir mit Axel Honneth diskutiert.

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