Soziale Ungleichheit

Leben im Abseits

Blick auf Paris vom 18. Stock des Rathauses im Vorort Gennevilliers am 25.11.2009.
Banlieues in Paris: In Frankreichs Gesellschaft brodelt es. © picture alliance / dpa / Robert B. Fishman ecomedia
Von Dina Netz · 06.10.2014
Der Schriftsteller Yannick Haenel geht in seinem Roman "Die bleichen Füchse" mit der französischen Gesellschaft hart ins Gericht. Er beschreibt den Weg eines Aussteigers und fordert mehr Mut für Utopien.
In der französischen Gesellschaft brodelt es, das ist spätestens seit 2005 klar, als in den (nicht nur Pariser) Banlieues Mülltonnen und Autos brannten. Bis gesellschaftliche Stimmungen ihren Weg in die Literatur finden, dauert es meist etwas. Doch jetzt sind der Unmut über eine politische Kaste, die sich bloß für die eigene Karriere interessiert, über eine soziale Ordnung, die sich ganz nach dem Konsum ausrichtet, und über eine Polizei, die mit staatlicher Billigung Migranten und Flüchtlinge misshandelt, auch in die Literatur vorgedrungen. "Die Republik Frankreich knirscht mit den Zähnen", heißt es im Roman "Die bleichen Füchse" von Yannick Haenel, der wohl die bisher gnadenloseste literarische Abrechnung mit eben dieser vorlegt.
Haenels Hauptfigur protestiert nicht, wie so viele andere, mit deren eigenen Waffen gegen die Gesellschaft, zum Beispiel indem er Front National wählte. Er steigt gleich ganz aus dem System aus, das ihn, den Arbeitslosen, als wertlos deklariert. Er kappt alle Bezüge zur bürgerlichen Existenz: keine Wohnung, kein Arbeitslosengeld mehr, und steigt stattdessen ein in das Auto eines Freundes, in dem er fortan wohnt. Jean Deichel, 43, lebt also nicht am Rande der Gesellschaft, wie es bei Aussteigern oft heißt, sondern er lebt einerseits mitten in ihr, mitten in Paris, andererseits doch auch komplett außerhalb. Er selbst nennt diesen Zustand "Leere".
Wunsch nach einer neuen Gemeinschaft
Vom Leben im Auto bis zu den "bleichen Füchsen" ist es da nur noch ein kleiner, logischer Schritt. Die "bleichen Füchse" sind ein loser Zusammenschluss von Menschen, die meisten von ihnen aus Afrika, denen zu vieles schiefläuft in Frankreich und die anderen in Notlagen helfen, zum Beispiel Flüchtlingsfamilien, die abgeschoben werden sollen. Viele von ihnen sind selbst Illegale, andere haben ihre Personalausweise verbrannt. Ihren Höhepunkt erlebt die Bewegung, als sich einem Trauermarsch für zwei von der Polizei zu Tode gehetzte "Füchse" Tausende Menschen aus Paris und Umgebung anschließen.
Yannick Haenel ist Mitbegründer der philosophischen Literaturzeitschrift "Ligne de risque", und ein bisschen merkt man seinem Roman den Journalisten an: Vor allem der zweite Teil, in dem es um die Gemeinschaft der bleichen Füchse geht, liest sich wie ein utopischer Essay oder ein leidenschaftliches Manifest. Zumal sich das ganze Buch an ein anonymes "euch" richtet, mit dem wohl diejenigen gemeint sind, die nicht aufbegehren. Jean Deichel als Individuum verschwindet aus dem Roman, und Haenel schreibt dementsprechend in einem engagierten politischen Duktus. Im ersten Teil, in dem der Protagonist aus der Gesellschaft fällt, gönnt er dem Roman auch mystische und sinnliche Szenen.
Yannick Haenel beschreibt nicht nur sehr klar und genau untragbare Zustände, sondern entwirft auch die Utopie einer neuen Gemeinschaft. Das ist nach dem Ende aller -ismen und Ideologien mutig – und belebend.

Yannick Haenel: Die bleichen Füchse
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014
190 Seiten, 18,95 Euro

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