Sozial- und Gesellschaftskritik

Moral als Handlungsmaßstab gefährlich

Sie galt Jahrzehnte als moralische Instanz: Die Herausgeberin der Frauenzeitschrift "Emma", Alice Schwarzer.
Der erhobene Zeigefinger - schlecht für die Kommunikation zwischen Konfliktparteien © dpa / Tim Brakemeier
Von Florian Felix Weyh · 07.03.2015
Auf die Moral zu pochen, verbaue Kompromisse zwischen Konfliktparteien, legt Thilo Hagendorff in "Sozialkritik und soziale Steuerung" dar. Der Soziologe empfiehlt stattdessen, sich konkrete Handlungsstrategien zu überlegen, um tatsächlich etwas zu verändern.
"Es findet sich kaum ein Satz bei Adorno, welcher nicht eindeutig moralisch codiert wäre da werden selbst die Pantoffeln, in welche man schlupfen kann, zum Denkmal des Hasses gegen das sich Bücken oder der Fund eines Dinosaurierskeletts zur Kollektivprojektion des totalitären Staates."
Starke Worte eines jungen Rebellen. Starke Worte? Ja. Aber rebellisch ist der junge Mann irgendwie nicht so richtig:
O-Ton: "Ich meine, dass man nicht davon ausgehen kann, man könne Gesellschaften oder große Systeme im Ganzen irgendwie revolutionieren und diese komplett auf andere Füße stellen."
Das aber meinten die Altvorderen durchaus noch. Die Soziologie und die in der Philosophie angesiedelte Frankfurter Schule fungierten nachgerade als universitäre Heimathäfen für Veränderungswünsche aller Couleur. An den Lehrstühlen und in den Seminaren wurde Gesellschafts- und Sozialkritik vorgedacht, die dann irgendwie und von irgendjemandem im politischen Raum verwirklicht werden sollte. Als das nach den rauschhaften Revoluzzer-Jahren von 1968 nicht mehr so recht klappte, schlugen die beteiligten Akademiker nach Beobachtung des Tübinger Nachwuchssoziologen Thilo Hagendorff eine ziemlich bequeme Richtung ein, die der Selbstreferenzialität nämlich.
Paradebeispiel einer kritischen Sozialphilosophie
O-Ton: "Die Frankfurter Schule ist in meinen Augen so ein Paradebeispiel einer kritischen Sozialphilosophie, die unglaublich starke Selbstthematisierungsschleifen ausgebildet hat. Also es gibt Zitierkartelle, die einfach über die Jahrzehnte hinweg gepflegt werden. Und meine Beobachtung ist, dass ist Lauf der Zeit diese ganze Theorieformation, bildlich gesprochen, den Kontakt zu den Verhältnissen verloren hat."
Just dieser Kontakt zu den Verhältnissen interessiert aber Hagendorff, die Frage nämlich, wie sich ex cathedra formulierte Sozial- und Gesellschaftskritik überhaupt in die Praxis übertragen lasse? Bei den Vertretern der Kritischen Theorie fand er kaum überzeugende Positionen. Das geht auf ein strukturelles Problem der Sozialphilosophen zurück: Sie sprechen – von Adorno über Habermas bis Axel Honneth – von einer hohen Warte aus. In ihrem Menschenbild sind wir alle mehr oder minder moralisch, und dementsprechend appellativ kommt auch die Kritik daher: Verhaltet euch anständig, dann wird die Welt von alleine besser. Dummerweise stecken selbst gutwillige Menschen oft in Verhältnissen fest, die einfaches Anständigsein zumindest erschweren:
Cover Thilo Hagendorff "Sozialkritik und soziale Steuerung"
Cover Thilo Hagendorff "Sozialkritik und soziale Steuerung"© transcript
O-Ton: "Also man redet über Dinge, die gut sind oder die schlecht sind, aber die Moralkommunikation ist eben in den dominanten sozialen Feldern einfach nicht integrierbar. Also die Wirtschaft, das Recht, die Politik, die können mit Moralkommunikation eben nur ganz bedingt etwas anfangen, wenn überhaupt."
… und Moral sei darüber hinaus als gesellschaftlicher Handlungsmaßstab sogar gefährlich:
O-Ton: "Weil Moral ja immer zwischen gut und schlecht differenziert. Und wenn das, was ein Beobachter dann als schlecht erachtet, von einem anderen Beobachter nicht als schlecht erachtet wird, dann kommt es eben zu Streit. Also Moralkommunikation hat immer eine gewisse Konfliktnähe."
"Es kommt derart mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kommunikationsabbruch."
... konstatiert Thilo Hagendorff in seiner Arbeit, und das klingt bei der aktuellen Weltlage beunruhigend vertraut. Ob im Konflikt mit Russland oder im Kampf gegen religiöse Wahnvorstellungen: Nichtverhandelbare, aber als moralisch gesetzte Positionen verbauen Kompromisse. Während das im großen Maßstab die Außenpolitik lähmt, äußert sich im Innenraum der Gesellschaft die übliche Kritik an den falsch oder gar nicht handelnden politischen Instanzen. Doch: 
"Über aussichtslose Themen (Weltfrieden, Gleichheit etc.) können keine Entscheidungen getroffen werden. (...) Politische Ideale mögen suggerieren, dass die Politik ein entsprechendes Fassungsvermögen habe, faktisch jedoch wird (zu) wenig politisch entschieden. Die Frage ist dann, welche Rolle außerparlamentarische, oppositionelle Organisationen einnehmen können. Diese Organisationen bilden häufig Speerspitzen sozialer Bewegungen und organisieren den Betrieb der Selbstalarmierung der Gesellschaft."
Junger Verfechter von Niklas Luhmanns Systemtheorie
"Selbstalarmierung" als primäres Ergebnis rechtschaffenen politischen Engagements klingt reichlich frustrierend. Doch diejenigen, die mit gutem Willen die Welt verbessern wollen, laufen nach der Blaupause traditioneller Sozialphilosophie in die Falle von "Einheitssemantiken", wie es Hagendorff soziologisch umständlich ausdrückt:
O-Ton: "Es wird also 'die Wirtschaft' oder 'die Politik' adressiert, aber man hat dort gar keine wirkliche Adresse, die die Kommunikation überhaupt annehmen könnte! Und meine Idee ist, dass diese Einheitssemantiken aufgegeben werden, dass die Moralkommunikation in gewisser Weise abgestellt wird, dass also kritische Sozialtheorien zum einen wirklich an konkrete soziale Adressen gerichtet werden, also an Institutionen, an Organisationen oder gar an Einzelpersonen, und dass zum anderen die Systemrationalitäten berücksichtigt werden. Also dass man etwa ein Unternehmen nicht mit Moralkommunikation adressiert, sondern mit Geldkommunikation."
Übersetzt heißt das: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Medien, all diese Großfelder funktionieren nach eigenen Binnenlogiken. Will man etwas verändern, muss man diese berücksichtigen und nicht das, was man selber für moralisch geboten hält.
Da sich Hagendorff praktischer Beispiele enthält, bleibt es dem Leser überlassen, sich Handlungsstrategien auszudenken. Den Bankern zu sagen, ihre Boni seien ungerecht, sozialschädlich und unmoralisch, bringt beispielsweise überhaupt nichts. Man muss einen Dreh finden, bei dem die Boni im Geldsystem der Banker weniger wert werden. Eine gleichzeitige Investitionspflicht in hochriskante Startup- oder niedrigprofitable Sozialunternehmen würde die Gemeinwohlbindung dagegen systemadäquat ausdrücken.
"Irgendwie müssen wir lernen, mit dieser Gesellschaft zurechtzukommen. Es ist keine andere in Sicht."
... schrieb eins Niklas Luhmann, der große Gegenspieler der Frankfurter Schule, und mit Thilo Hagendorff hat dessen Systemtheorie einen geistreichen Verfechter in der jungen Generation dazugewonnen. Wie einst bei Luhmann ist die Botschaft allerdings fern aller öffentlichkeitswirksamen Revolutionsromanik, ja Hagendorff zitiert sogar zustimmend Robert K. Mertons Gegenüberstellung von "bürokratischen" und "ungebundenen Intellektuellen":
"Während ungebundene Intellektuelle in erster Linie Texte anderer ungebundener Intellektuellen nach blinden Flecken absuchen (…), suchen bürokratische Intellektuelle den Markt der Stellen und Ämter nach höheren, einflussreicheren Positionen ab und versuchen, diese zu besetzen."
O-Ton: "Meine Idee ist, dass wirklich die klugen Köpfe die Universität verlassen und sich in die Institutionen begeben. Dass also gleichsam die Problemlösungsintelligenz unserer Gesellschaft auch ganz konkret dort hingeht, wo die Probleme sind, und dass man nicht immer aus der Distanz kritisiert."
Von Fachjargon der Zunft befreien
Das wäre dann der Marsch durch die Institutionen anno 2015. Bleibt das kleine Problem, dass die "ungebundenen Intellektuellen" auf den Lehrstühlen und in den Feuilletons die Diskurshoheit behaupten und weiter Moralappelle in die Welt senden.
So lange sich potenzielle "bürokratische Intellektuelle" wie Thilo Hagendorff nicht vom Fachjargon ihrer Zunft befreien, werden sie zudem Schwierigkeiten haben, ihre Vernunftpositionen als verlockend darzustellen. Das ist freilich nicht nur sprachlich, sondern überhaupt ein längerer Weg. Denn wie kam Hagendorffs Dissertation bei den ungebundenen Intellektuellen an?
O-Ton: "Schwierig, weil letztendlich doch immer so die Idee besteht, dass es Großlösungen gibt, die auch irgendwie umgesetzt werden können, und dieser zurückhaltende Reformismus, für den ich so ein bisschen plädiere, der also Probleme nicht mit einem Schlag sozusagen beseitigt, der wird schon durchaus kritisch gesehen."

Thilo Hagendorff: Sozialkritik und soziale Steuerung
Zur Methodologie systemangepasster Aufklärung
Transcript Verlag, Bielefeld 2014
344 Seiten, 38,99 Euro

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