Souveräne Stimme der Gelehrten

Von Konrad Lindner · 02.04.2008
Bei ihrer Gründung vor mehr als 350 Jahren wurde sie nach Kaiser Leopold I. benannt. Die Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle zählte die größten Gelehrten der jeweiligen Zeit wie Goethe oder Darwin zu ihren Mitgliedern. Nach 1945 und während des Kalten Krieges profilierte sie sich zu einem exklusiven Forum des interdisziplinären Gesprächs zwischen Ost und West.
"‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘"

Aus einem Interview mit Annette Schavan: "Guten Morgen, Herr Schütte! – Die Deutsche Akademie der Wissenschaften, wo wird sie stehen? – Die älteste wissenschaftliche Akademie Europas, die Leopoldina in Halle, wird von mir den Auftrag erhalten, die Rolle einer Deutschen Akademie der Wissenschaft wahrzunehmen. "

Früh am Morgen des 16. November 2007. Annette Schavan gab ein Interview für den Deutschlandfunk. Die Bundesforschungsministerin unternahm einen wissenschaftspolitischen Vorstoß:

Die Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle an der Saale – gegründet 1652 in Schweinfurt – soll Deutsche Akademie der Wissenschaften werden. - Seit über 350 Jahre war der Wahlspruch der Akademie.

"‘nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘"

In die Emil-Abderhalden-Straße 37 kommen Monat für Monat Bürger aus Halle und Umgebung, um sich die öffentlichen Vorträge der Leopoldina anzuhören. Für viele Interessen ist etwas dabei.

Nach dem Vortrag eines Theologen zum Streit über die Stammzellgesetzgebung in Deutschland begab sich Charlotte Engelmann zufrieden auf den Heimweg. Die Medizinalrätin im Ruhestand erzählte zuvor frank und frei, was sie an die Leopoldina bindet.

Charlotte Engelmann: " "Also ich bin immer sehr glücklich und dankbar, wenn ich die Einladung bekomme. Es regt immer wieder an. Es ergänzt. Und man setzt sich nicht in den Schaukelstuhl und wird alt. Ich bin so froh, dass es die Leopoldina eben gibt!"

Anfang 2008 hielt Frank Scherbaum von der Universität Potsdam in der Leopoldina einen Vortrag. Der Seismologe erforscht die Schwingungen unseres Planeten. In seinem Vortrag beschrieb der Geophysiker die Erde als Musikinstrument.

Er spielte die Computersimulationen der Signale von großen Erdbeben und von heftigen Vulkanausbrüchen vor. Über unseren Planeten sprach Frank Scherbaum ähnlich wie einst der Naturphilosoph Heraklit. Der antike Denker lehrte mit dem Spruch: "Alles fließt".

Frank Scherbaum: "Die Erde ist kontinuierlich in Bewegung. Das spielt sich zwar auf Zeitskalen ab, die wir nicht unbedingt wahrnehmen. Die Erde auf Zeitskalen von Millionen bildet Gebirge. Auf Zeitskalen von Sekunden vibriert sie die ganze Zeit. Durch Wind. Durch Verkehr. Die Erde ist nicht still, sondern die Erde ist kontinuierlich in Bewegung."

Frank Scherbaum ist seit 2005 Mitglied der Leopoldina. In dem Geophysiker steckt eine Musikerseele. Mit dem Berliner Komponisten Wolfgang Loos schuf er eine Seismosonic Symphony, die große Beachtung fand. Auch auf diese Weise setzt sich der Seismologe dafür ein, in der Öffentlichkeit die Neugier für sein Fachgebiet zu wecken.

Ohne die Messungen und Berechnungen der Geophysiker können weder erdbebensichere Häuser gebaut werden, noch hätte ohne ihre Hilfe im Indischen Ozean ein Tsunami-Frühwarnsystem errichtet werden können. Volker ter Meulen – seit dem Jahr 2003 Präsident der Leopoldina - über den Vortrag, den Frank Scherbaum präsentierte:

"Natürlich ist das Wissenschaft. Derjenige, der diesen Vortrag gehalten hat, hat mal Musik studiert. Und er hat sich aus dieser Tatsache heraus beschäftigt mit Erdschwingungen. Er hat versucht, diese Erdschwingungen mal umzusetzen in ein Notenbüchlein, wenn Sie so wollen. Also ich fand das einen hochinteressanten Vortrag, der eben viele Seiten anspricht und der eben auch zeigt, dass im Grunde wirkliche Naturwissenschaftler in der Lage sind, auch sich mit andern Dingen zu beschäftigen."

In dem berühmten Dialog "Timaios" prägte Platon den Begriff der "Weltseele". Dieser Begriff erhält einen messbaren Sinn, wenn Geophysiker über die Rhythmik der Vulkane erzählen.

Frank Scherbaum: "Wir haben ein Signal vom Mirapi, wo dann über viele Stunden hinweg eine phantastische Rhythmik auftritt, die ja schon fast an die ,Love-Parade’ in Berlin erinnert."

"‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘"

Die Idee, die Leopoldina als nationale Akademie ins Rennen zu schicken, war nicht neu. Sie wurde bereits 1990 geboren. Im Jahr der deutschen Einheit wandte sich die Bundesregierung an die Leopoldina in Halle an der Saale.

Die Regierung wollte beim Übergang zu einem Freien Europa auf das einzigartige geistige Potenzial dieser Akademie setzen. Volker ter Meulen zu den Hintergründen, die es der Akademie damals unmöglich machten, auf den Vorschlag einzugehen.

Volker ter Meulen: "Damals hat die Bundesregierung die Leopoldina gebeten, Nationale Akademie zu werden. Aber damals sah sich das Präsidium und der Senat nicht in der Rolle, das zu übernehmen. Man konnte nicht aus einem politischen System wechseln in das andere. Man musste sich zurechtfinden. Man musste sich reorganisieren und restrukturieren. Und auf einmal die Aufgaben übernehmen für eine internationale Sichtbarkeit und Repräsentation, das ist etwas, was man nicht so schnell leisten kann. Ich habe vollstes Verständnis für diese Absage seinerzeit, obwohl ich gedacht habe: ‚Wir haben die Chance unseres Lebens vertan! Die Leopoldina wird niemals mehr nationale Akademie!‘"

"‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘"

Die Leopoldina wurde 1652 in Schweinfurt gegründet. Sie ist inzwischen eine altehrwürdige Dame, die viele Wissenschaftlergenerationen zu Gesicht bekam. Das lebende Lexikon der Leopoldina war jahrzehntelang Joachim-Hermann Scharf.

Der Anatom, der 1950 in Mainz seinen Doktor in der Medizin machte, ist seit 1961 Mitglied der Leopoldina. Am Rande der Jahresversammlung 1991 erzählte der Mediziner den Journalisten aus Ost und West über die Gründung der Gelehrtengesellschaft:

"Nun nach dem Dreißigjährigen Krieg war in Mitteleuropa – insbesondere in Deutschland - fürchterliches Chaos. Die Städte waren zerstört. Die Dörfer abgebrannt. Die Bevölkerung zusammengeschrumpft. Wissenschaft gab es fast nicht mehr. Die Universitäten waren durch den Krieg entvölkert. Und vier Ärzte in der damaligen freien Reichsstadt Schweinfurt am Main haben den Plan gehabt, nach dem Vorbild der alten italienischen Akademie, die schon Galilei gekannt hat, die Akademia de Licii, der Luchsäugigen, weil sie Mikroskope bauten unter anderem, nannten sie sich die Luchsäugigen, diese vier Ärzte haben also nach diesem italienischem Vorbild eine Akademie gegründet, um die Natur zu erforschen zum Wohle der Menschen.” "

Auch nach dem zweiten großen Krieg im 20. Jahrhundert gelang der Leopoldina ein Husarenstreich, der bei Kennern noch heute für Bewunderung sorgt. Was war geschehen?

Leopoldina-Präsident Emil Abderhalden hatte die Akademie, die seit 1878 in Halle ansässig ist, durch die NS-Diktatur bugsiert. Ohne innere Schäden war auch die Leopoldina nicht davongekommen. Widerstrebend hatte Abderhalden der Anweisung der NS-Regierung folgen müssen, alle jüdischen Mitglieder der Akademie – darunter den Nobelpreisträger Albert Einstein – im Matrikelbuch streichen lassen. Nach dem Krieg kam die Chance zu einem Neubeginn. Doch Emil Abderhalden stand der Akademie jetzt nur von der Ferne zur Verfügung. Die Amerikaner hatten den 78-Jährigen 1945 bei ihrem Abzug aus Halle zusammen mit vielen anderen Wissenschaftlern evakuiert.

Doch kopflos war die Akademie auch jetzt nicht. Vizepräsident Otto Schlüter wurde aktiv. In zähen Verhandlungen konnte der Geograf die Anbindung der Leopoldina an eine staatliche Akademie der DDR verhindern. Im Jubiläumsjahr 1952 vollzog die Leopoldina auf ihrer 300-Jahrfeier ihre Reanimation.

Michael und Joachim Kaasch sowie Wieland Berg schreiben über diese Sternstunde: " "Die offizielle Anerkennung als deutsche, d. h. nach der Teilung Deutschlands (als) überstaatliche wissenschaftliche Einrichtung bewahrte der Leopoldina ihre Unantastbarkeit vor direktem politischem Eingriff. Sie begriff sich als übernationale deutschsprachige freie Gelehrtengesellschaft."

Keine andere akademische Institution im geteilten Land setzte sich derart erfolgreich für die Bewahrung der Einheit der Wissenschaft in Deutschland ein, wie die Leopoldina. Obwohl die Regierung der DDR versuchte, die Leopoldina in der Phase ihrer Abgrenzungspolitik zu reglementieren, bewahrte sich die Akademie ihre Autonomie.

Dem Wunsch, dauerhafte Beziehungen der Mitglieder in beiden Teilen Deutschlands aufrechtzuerhalten, verlieh die Leopoldina auch organisatorisch Ausdruck. Ein "auswärtiges" – das heißt westdeutsches – Mitglied der Akademie wurde auf symbolträchtige Weise als Vizepräsident eingesetzt. Ihre Unabhängigkeit hat die Leopoldina während der DDR wieder und wieder hoch gehalten.

Volker ter Meulen: "Die Tatsache, dass das Präsidium und der Senat immer auch Mitglieder aus Westdeutschland hatte, hat sie davor bewahrt, dass sie geschluckt wurde und dicht gemacht wurde. Denn es drohte immer natürlich die Überführung der Leopoldina nach Westdeutschland. Und da damals Butenandt Vizepräsident war, wäre sofort die Leopoldina in München etabliert worden. Dann wäre sie niemals nach Halle zurückgekommen. Also ich denke, einmal die Tatsache, die west-ostdeutschen Wissenschaftsbeziehungen am Leben zu erhalten, das einzige Forum zu sein, wo west- und ostdeutsche Wissenschaftler sich treffen können, und darüber hinaus eben noch ausländische Wissenschaftler aus dem europäischen oder außereuropäischen Ausland hier hergekommen sind, hat doch eine enorme Signalwirkung gehabt für diese Universität, für die jungen Studenten, für die Professoren. Also ich denke, das wird im Ausland hoch geschätzt und hoch angesehen, ob dieses Verhaltens. Das ist natürlich geprägt worden durch die Präsidenten. Gar keine Frage."

Den beschwingenden Geist der Wissenschaftsfreiheit verkörperten unter den Bedingungen der Teilung in Deutschland die Leopoldina-Präsidenten Kurt Mothes und Heinz Bethge auf beispielhafte Weise.

Erstmals in der Geschichte der Leopoldina sprach auf der Jahresversammlung der Deutschen Akademie der Naturforscher von 1991 ein Staatsoberhaupt vor der gelehrten Sozietät. Bundespräsident Richard von Weizsäcker würdigte in seinem Festvortrag den freiheitlichen Geist von Deutschlands ältester Akademie:

"So blieb die Leopoldina in den fast dreieinhalb Jahrhunderten ihres Bestehens eine Bastion der Aufklärung in dem Sinn, den - wie wir alle wissen - Kant ihr gab: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Soweit Kant. Dank der Friedlichen Revolution in der DDR ist die Emanzipation der Wissenschaft von staatlich angestrebter Unmündigkeit gewonnen. Vor der selbst verschuldeten, vor der Kant warnte, müssen Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler aller Welt im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden sich weiter täglich hüten."
"‘nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘"

Der neuzeitliche Begriff der Akademie für Gelehrten-Vereinigungen geht auf Platons Akademeia zurück. Dieser weit gefaßten Tradition ist die Leopoldina schon deshalb verpflichtet, weil sie keine eigenen Labors unterhält, dafür aber mit hohem geistigen Anspruch den Dialog zwischen den Disziplinen pflegt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kultivierte Carl Friedrich von Weizsäcker auf dem Parkett der Leopoldina die Kultur des Weiterfragens. Für den Physiker und Philosophen aus der Bundesrepublik gab es ein starkes persönliches Motiv, wenn die Jahrestagungen der Leopoldina in seinem Kalender über vier Jahrzehnte hinweg ein fester Termin waren.

Carl Friedrich Weizsäcker: "Ich habe zu dem Lande der so genannten DDR ja eine Beziehung gehabt, weil Berlin, auch Ostberlin mir wichtig war. Ich hatte in Berlin, freilich in Westberlin, mein Abitur gemacht. Dann habe ich in Leipzig studiert. Ich habe einfach vieles dort gekannt und habe dort gute Bekannte. Das war das eine. Dann eben kam aber hinein. Ich wurde eingeladen. Bin zum ersten Mal 1956 oder 1957 einer solchen Einladung gefolgt. Übrigens gleich mit meiner Frau. Ich bin mit dem Auto nach Jena gefahren. Und da kamen wir durch die Wälder und durch die Dörfer und durch die kleineren Städte und so. Und meine Empfindung war: ‚Ich bin wieder in Deutschland!‘"

Die Leopoldina schwamm nicht nur in politischer Hinsicht gegen den Strom. Der Biochemiker und Pflanzenforscher Kurt Mothes prägte auch das geistige Antlitz der Akademie.

Er widersetzte sich dem verbreiteten Hang zu einer Spezialisierung, die dazu führt, dass die Experten vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen verlieren. Als Carl Friedrich von Weizsäcker am 22. Dezember 1959 in die Leopoldina aufgenommen wurde, schrieb Kurt Mothes programmatisch:

" Die Akademie benötigt "starke Persönlichkeiten", "die durch ihr Wirken über die Grenzen der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit hinaus Atmosphäre verbreiten und das geistige Gesicht unserer Zeit mitgeprägt haben". "

Als junger Physiker der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hatte Weizsäcker in Berlin-Dahlem wichtige Beiträge zur Astrophysik geleistet. Parallel zu Hans Bethe in den Vereinigten Staaten klärte der Schüler von Niels Bohr und Werner Heisenberg 1938 den Energiehaushalt der Sonne und der Fixsterne auf. Aber der Atomforscher wirkte auch am theoretischen Konzept für Uran- und Plutoniumbomben mit, wodurch sich der Diplomatensohn in politische Schuld verstrickte. Weizsäcker reflektierte das Versagen seines Berufsstandes später in der jungen Bundesrepublik nicht nur ehrlich, sondern auch nachhaltig. Im April 1957 widersprach er Kanzler Konrad Adenauer in der Frage der Atomgranaten für die Bundeswehr mit der Göttinger Erklärung öffentlich und wirkungsvoll.

Seit den großen Debatten um die frühe Quantenmechanik lebte und pflegte Weizsäcker den Dialog. Diesen Geist der Kopenhagener Schule von Niels Bohr trug er auch in die Leopoldina hinein. Exemplarisch in dieser Hinsicht war der feierliche Schlussvortrag, den er auf der Leopoldina-Jahresversammlung vom Oktober 1965 hielt. Weizsäcker referierte über das "Verhältnis der Biologie zur Physik". Den Vortrag eröffnete er mit den Worten:

"Wir befinden uns am Ende einer Tagung unter dem Titel ‚Strahlung‘. Wer an der Tagung teilgenommen hat, wird selbst bemerkt haben, in welchem Maße hier Physik, Chemie, Biologie einander abgewechselt und in die Hand gearbeitet haben. Es ist deshalb vielleicht ein sinnvolles Thema für einen Abschlußvortrag, sich zu fragen, wie denn nun eigentlich diese Wissenschaften miteinander systematisch zusammenhängen."

Wie die Wissenschaften miteinander systematisch zusammenhängen, hatte schon Immanuel Kant beschäftigt. Der Königsberger Denker fragte im Alter von 66 Jahren in seiner "Kritik der Urteilskraft" danach, ob denn eines Tages ein "Newton des Grashalms" aufstehen werde. Gemeint war eine Theorie der Evolution, mit der analytisch wie in der klassischen Mechanik nunmehr auch die Evolution der irdischen Vegetation und die Dynamik sowohl des Wachstums von einzelnen Pflanzen als auch der Artbildung erklärt werden kann.

Vom Prinzip der Evolution und der Zeitlichkeit machten im 20. Jahrhundert nicht nur die Botaniker und Zoologen, sondern auch die Astro- und Biophysiker ebenso Gebrauch wie die Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaftler. Auf diesem Umbruch hin zu einem evolutionären Weltbild beruhte auch die große Resonanz, die Weizsäcker durch sein Wirken in der Leopoldina hervorrief.

Der Experimentalphysiker Heinz Bethge – er war bis 1990 16 Jahre lang Leopoldina-Präsident - über eine Ehrung Weizsäckers im Jahre 1982:

"Na, der Carl Friedrich war – ich möchte sagen - unser Glanzstück unter den Mitgliedern hier. Mit seiner Überschau, die ihm so liegt, war er natürlich der richtige Mann für eine Akademie. Denn eine Akademie ist ja immer bestrebt, die einzelnen Disziplinen zusammenzubringen, den Überbau zu sehen. Und Weizsäcker hat zu unseren Jahresversammlungen ganz glänzende Vorträge gehalten. Mir war es eine Riesenfreude, zum 150. Goethe' schen Todestag in einer wunderschönen Feier in Bad Lauchstädt ihm die Verdienstmedaille der Leopoldina zu überreichen."

Für Carl Friedrich von Weizsäcker war die Mitwirkung in der Leopoldina keine äußerliche Pflicht, sondern ein inneres Bedürfnis. Für den bekennenden Protestanten hatte das Gespräch über Wissenschaft immer auch mit dem Wissen der Religionen über die Grenzen der Naturforschung und über die Einzigartigkeit des menschlichen Individuums zu tun.

Weizsäcker: "Und dann bin ich jedes Jahr wieder da hin gefahren und zwar jedes Jahr als Gast von Wissenschaftlern, von wissenschaftlichen Professoren oder dann später der Leopoldina in Halle. Aber außerdem bin ich dann immer, ich glaube fast jedes Jahr, auch Gast geworden der an den betreffenden Orten befindlichen evangelischen Kirche und auch zum Teil der katholischen Kirche und habe mit denen allen sehr gut reden können. Denn ich fand, dass die Christen in der DDR gegenüber ihrem eigenen Staat, der sonst vom Nationalsozialismus in vielen Dingen sehr verschieden war, genau dieselbe Erfahrung hatten, die die Christen unter den Nazis gemacht haben. Dass, wenn man bereit ist, auch noch Opfer zu bringen für diese eigene Überzeugung, man dann etwas von dem Sinn dieser Überzeugung erfährt. Dass man, solange dies einfach nur die offiziell anerkannte Kirche ist und alles gut ist, dann diese Erfahrung so einfach nicht hat. Und das geht, wenn man nun zurückblickt, eigentlich durch die zweitausend Jahre christlicher Geschichte."
Der Virologe Volker ter Meulen wurde im Jahr 1984 in die Leopoldina aufgenommen. Der Kinderarzt und Forscher hatte die Ursachen für eine tödliche Erkrankung des Zentralnervensystems aufklären können.

Gleich die ersten Eindrücke und die ersten Vorträge inmitten der DDR in Halle blieben unvergesslich. Der Mediziner Volker ter Meulen über den Physiker und Naturphilosophen Carl Friedrich von Weizsäcker:
"Den habe ich erlebt und habe ihn bewundert. Ich war junger Ordinarius aus Würzburg und kam hier zum ersten Mal nach Halle und war beeindruckt von der Gastfreundschaft der Hallenser Kollegen, insbesondere der Leopoldina-Mitglieder und auch von Herrn von Weizsäcker, der hier herausragende Vorträge gehalten hat."

"‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘ ‘Die Natur erforschen zum Wohle des Menschen.‘"

Wissenschaft entsteht nicht allein im Labor, sondern auch und gerade im öffentlichen Gespräch. Ein wichtiges Forum des Dialogs über die Fachgrenzen hinaus sind daher die Jahresversammlungen. Der Mothes-Schüler Benno Pathier stand von 1990 bis 2003 an der Spitze der Leopoldina.

Während seiner Amtszeit schilderte der Biochemiker mit Stolz die Geschichte der Jahresversammlungen, die keineswegs das einzige, aber bis heute das wichtigste, lebendigste und originellste Gesprächsforum der Leopoldina darstellen.

Benno Pathier: "Schon 1957 wurde das Virus-Problem behandelt. Dann kam das Zeit-Problem. Nervenphysiologie war ein Thema. Strahlung. Biologische Modelle. Evolution 1973. Prozesskinetik. Raum und Zeit. Singularitäten. Anomalien. Das waren die Themen in den 80er Jahren. Jetzt nach der Wende in der Form auch weitergeführt: Musterbildung und Mustererkennung. Wachstum und Wachstumsgrenzen. Signalwandlung und Informationsverarbeitung. In diesem Jahr das neueste Thema war: Was kann Naturforschung leisten? Das war vielleicht so gesehen die am stärksten politisch orientierte Veranstaltung und vielleicht auch die am stärksten allgemein und geisteswissenschaftlich unterstützte Jahresversammlung, die wir bisher gehabt haben."

Die Vorträge der Jahresversammlungen erschienen und erscheinen in repräsentativen Sammelbänden. Zum Beispiel: (1973) "Evolution", (1999) "Altern und Lebenszeit" und (2005) "Evolution und Menschwerdung". In den Jahrzehnten der DDR war der Direktor der Akademieschriften – der Director Ephemeridum – eine Schlüsselperson, die sich im geteilten Land für die Unteilbarkeit der Wissenschaft einsetzen sollte.

Diese Aufgabe übte mit Bravour Joachim-Hermann Scharf aus. Am Rande der Jahresversammlung 1991 - mit der Rede des Bundespräsidenten - erzählte Joachim-Hermann Scharf über die Geschichte der Leopoldina. Der Anatom über den deutsch-deutschen Geist der Akademie:

"Die Akademie ist sogar international. Sie ist ursprünglich gegründet worden als Deutsche Akademie der Naturforscher. Wurde aber 1677 von Kaiser Leopold dem I. als Reichsakademie anerkannt. Sie bekam Privilegien, von denen das wertvollste Privileg das Privileg der Zensurfreiheit war. Dieses Privileg hat uns auch über die Diktaturen des Dritten Reiches und der 40 Jahre unter den Kommunisten hinweggeholfen. Wir haben immer auf der Einhaltung dieses Zensurfreiheitsprivilegs bestanden. "

"‘nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘ – ‚niemals müßig‘ – ‚nunquam otiosus‘"

Etwa seit dem Jahr 2000 ereignet sich in der Leopoldina eine stille Revolution, die keineswegs beendet ist. Nicht nur neue Naturwissenschaftler und neue Mediziner wurden in die Akademie aufgenommen, sondern auch führende Forscher aus den Ingenieurwissenschaften, aus den Literatur- und Kunstwissenschaften und nicht zuletzt aus der Philosophie.

An dieser Öffnung für neue Felder der Wissenschaft hält Leopoldina-Präsident Volker ter Meulen beharrlich fest:

" "Wir haben die empirischen Geisteswissenschaften aufgenommen, weil wir sie einfach brauchen. Wir können nicht mehr Stellungnahmen erarbeiten oder auch Diskussionen führen, wie zum Beispiel über die Stammzellproblematik, wenn Sie dort nicht die empirischen Geisteswissenschaftler mit aufnehmen. Also kurz gesagt, die Problematik ist breit geworden. Sie ist nicht nur auf eine einzelne Disziplin beschränkt. Die Naturwissenschaften, die ganzen Life-Science‘s brauchen auch gesellschaftsorientierte empirische Geisteswissenschaftler."

Auch der Mut zum ehrlichen Umgang mit der deutschen Vergangenheit ist in der Leopoldina lebendig. Auf der Jahresversammlung 2007 ergriff Wolfgang Frühwald das Wort. Der Literaturwissenschaftler aus München stellte in seinem Vortrag die Forschungen des jüdischen Historikers Saul Friedländer zur Geschichte des Holocaust vor. Der Geisteswissenschaftler sprach vor seiner leidenschaftlichen Laudatio in Frankfurt anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Saul Friedländer in Halle in der Leopoldina:

"Das, was Friedländer tut, ist, dass er ein Jahrhundertverbrechen, das Nachbarn an ihren Nachbarn begangen haben, so in der Erinnerung verankert wird, dass diese ‚Es reicht uns jetzt!‘ überhaupt nicht mehr aufkommt. Sondern dass dieses Verbrechen in unserer Erinnerung Teil unserer Identität ist. Und im übrigen beruht darauf, dass das so ist, das Ansehen Deutschlands in der Welt."

Gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie gelang der Leopoldina ein Geniestreich. Durch die Gründung der Jungen Akademie wurde die akademische Szene in Deutschland belebt. Sie geht auf den Entwicklungspsychologen Paul Baltes vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zurück. Volker ter Meulen über den Erfolg des Projektes einer Jungen Akademie:

"Das ist eine tolle Erfahrung, die wir Alten haben. Das ist eine tolle Institution. Die Holländer haben dasselbe Modell aufgelegt. Die Royal Society diskutiert es. Die Akadémie des Sciences in Paris diskutiert es. Die Polen - auch die Akademie- überlegen es. Wir werden erleben, dass an verschiedenen Stellen in Deutschland solche Akademien von jungen Leuten aufgebaut werden. Die zeitlich begrenzt sind. Nach fünf Jahren scheiden sie aus. Dann können sich die älteren Akademien überlegen, ob sie die jungen Leute übernehmen oder nicht übernehmen oder noch abwarten. Aber ich muss sagen, das ist eine tolle Erfahrung, ein tolles Modell. Da hat Paul Baltes vollkommen recht gehabt, dass das eine lohnende Aufgabe ist, der man sich stellen soll."

Die Ankündigung von Annette Schavan im vergangenen November sorgte für Aufregung. In den Wochen und Monaten darauf wurde von Wissenschaftspolitikern munter gestritten: Warum soll gerade die Leopoldina die Stimme der deutschen Wissenschaft auf dem internationalen Parkett werden? Warum soll man sich ausgerechnet jetzt einigen, wenn man sich in der Frage der nationalen Akademie über ein Jahrzehnt lang nicht hat einigen können?

Doch am 15. Februar 2008 wurde die Leopoldina auf der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz in Berlin einhellig zur Deutschen Akademie der Wissenschaft – kurz DAW – gekürt. Matthias Kleiner – Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft – ist als Ingenieurwissenschaftler seit dem Jahr 2006 Mitglied der Leopoldina. Der Wissenschaftspolitiker über den couragierten Vorstoß der Bundesforschungsministerin:

"Na, es kam zunächst mal etwas überraschend. Wir hatten über eine ganze Zeit lang dieses DAW-Konzept diskutiert. Es ist daran gefeilt worden und die Allianz der Wissenschaftsorganisationen hatte sich zu diesem Konzept bekannt und hatte der Politik gesagt: So, jetzt seit ihr dran, darüber zu entscheiden! Und dann kam schon von Frau Schavan der Beschluss, die Leopoldina dort ins Rennen zu bringen etwas überraschend. Aber wenn man dann genau drüber nachdachte, war es eigentlich doch ganz begrüßenswert, zu sagen: So, jetzt wird dieser Knoten, der sich schon gewissermaßen in der Wissenschaft und zwischen Wissenschaft und Politik gebildet hatte, der wird jetzt mal durchschlagen. - Und man muss nach vorne gucken. Man muss auch nach vorne fallen manchmal."