Sorj Chalandon: "Mein fremder Vater"

Wenn der Vater zur Hölle wird

Sorj Chalandon hält mit "Mein fremder Vater" die Erinnerung an den Algerienkrieg wach.
Sorj Chalandon hält mit "Mein fremder Vater" die Erinnerung an den Algerienkrieg wach. © dtv Verlag
Von Sigrid Brinkmann · 11.08.2017
Ein cholerischer Vater missbraucht den Sohn für seine eigenen politischen Aktivitäten. Sorj Chalandon hält mit seiner Familiengeschichte "Mein fremder Vater" die Erinnerung an den Algerienkrieg wach. Ein wichtiges Buch, denn der Krieg ist noch nicht vollständig aufgearbeitet.
Mehr als drei Jahrzehnte lang hat Sorj Chalandon als Reporter der Tageszeitung "Libération" Verrat und Lügen, ideologische Kämpfe und Gewaltverbrechen in Kriegsregionen recherchiert und dokumentiert. Für seine journalistische Arbeit wurde er ausgezeichnet und für seine sieben Romane ebenso. Jedes seiner Bücher, sagt er, entspräche einer Wunde. Die Vater-Wunde habe so sehr geschmerzt, dass er sie erst im Alter von 63 Jahren schonungslos betrachten konnte. Sorj Chalandon hält es für möglich, dass "Mein fremder Vater" sein letztes fiktionales Buch ist. Wie im Leben, so bildet der Tod auch im Roman eine Klammer, um Erlebtes wachzurufen und wieder einzuschließen.
Sorj Chalandan beginnt und beendet seinen Roman mit der Schilderung der Gedenkfeier für einen väterlichen Tyrannen. Mit dem 23. April 2011 hat er dafür ein symbolisches Datum gewählt. Fünfzig Jahre zuvor hatte am 23.April die von französischen Offizieren gegründete Untergrundorganisation OAS in Algier einen Staatstreich ausgerufen. Algerien war keine Kolonie, sondern wurde von Frankreich als Teil der "Patrie" angesehen. Und General de Gaulle wollte in dem schon sieben Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieg der Algerier eine Wende durch Verzicht auf das Territorium einleiten.
Die Haupthandlung des Romans beginnt am Tag des Aufstands 1961. André Choulans ist ein Sympathisant der OAS. Er malt das Sigel der paramiltärischen Geheimorganisation in die Tomatensoße seiner Nudeln und ruft zum Krieg gegen den "Verräter de Gaulle" auf. Der Schwadroneur liebt die großen Auftritte vor stummen Zeugen. Chalandon schildert den Vater konsequent aus der Perspektive des heranwachsenden Sohnes, der ganz Ohr und Auge sein muss, um sich zu schützen. Brutal und cholerisch ist der Vater. Für das Leben hat er "nur ein Zischen übrig". Die Bande zur weiteren Familie zerschneidet er. Gäste gibt es nie. Den Sohn schlägt er, wann immer die Wut aufs Leben ihn überfällt. Die Mutter verkommt zu seiner Komplizin, und der Heranwachsende muss Techniken entwickeln, um die schweren Misshandlungen zu überstehen.

Verblichene Wirklichkeiten wird sichtbar

Es ist beklemmend, von den Züchtigungen zu lesen, und doch bringt der Autor einen immer wieder zum Lachen. Einfach grotesk wirken die deftigen Reden des ideologisch verblendeten Vaters und die Unterwürfigkeit der einfältigen Mutter. Jede Psychologisierung vermeidend, gelingt es Chalandon dennoch, das Pathologische der väterlichen Verhaltensstörung kenntlich zu machen. Der Sohn wird eingespannt für Wandschmierereien und Botengänge für OAS-Kämpfer, die zwischen 1961 und 1963 Attentate in Frankreich begingen. Dass die Wunde des Algerienkrieges in Frankreich noch immer schwärt, konnte man zuletzt während des Wahlkampfes um das Präsidentenamt sehen. Es ist gut, dass Romane wie "Mein fremder Vater" die Erinnerung an einen Krieg, der bis 1999 offiziell nicht als solcher bezeichnet werden durfte, wach halten.
Die Vaterfigur, die Chalandon erfunden hat, spricht das Urteil über diejenigen, die sich den Notwendigkeiten der Zeitläufe verweigerten. André Choulans ist alles und nichts: Fallschirmjäger und verstoßener Sänger eines berühmten Vokalensembles, Prediger einer Freikirche, engster Freund eines mysteriösen CIA-Agenten, Judolehrer, ein Mann am Küchentisch, der Politikern unentwegt Briefe schreibt. Vor allem aber ist er ein Rassist, der nichts und niemanden wirklich wahrnimmt und achtet. Für sein erwachsen gewordenes Erzähler-Ich hat Sorj Chalandon den Beruf des Gemälderestaurators ersonnen. In gewisser Weise ähnelt dessen Tun dem eines Autors. Beide reinigen sichtbare Oberflächen und legen Schichten frei, um verborgene Details ans Licht zu holen. Sie machen verblichene Wirklichkeiten sichtbar und arbeiten für die Schönheit des Ausdrucks. Sorj Chalandon sollte weiter schreiben.

Sorj Chalandon: Mein fremder Vater
Aus dem Französischen von Brigitte Große
DTV, München 2017
336 Seiten, 22,00 Euro