Sophie Seemann über "Verschwundene Krankheiten"

Die kulturelle Seite der Krankheit

08:22 Minuten
Sophie Seemann, Autorin des Buches "Verschwundene Krankheiten" (Kulturverlag Kadmos)
Krankheiten seien nicht ausschließlich medizinische Phänomene, sagt Kinderärztin Sophie Seemann. © Bernward Reul
Sophie Seemann im Gespräch mit Andrea Gerk · 04.12.2019
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In ihrer Geschichte hat die Medizin schon so manche Krankheit erfolgreich bekämpft. Doch nicht immer geht der Sieg allein aufs Konto der Naturwissenschaften. Ein neues Buch zeigt: Auch kulturelle Faktoren spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Die Medizin hat in ihrer Geschichte den Kampf mit schon so mancher Krankheit aufgenommen. Und glücklicherweise oft gewonnen. Doch nicht immer waren es neue Medikamente, die eine Krankheit verschwinden ließen.
Die Kinderärztin Sophie Seemann spürt in ihrem neuen Buch den Geschichten des Verschwindens verschiedener Krankheiten nach. Nicht selten, so ihr Ergebnis, spielten dabei auch kulturelle und soziologische Gründe eine Rolle.

Soziale Schutzfunktion

So etwa beim "Versehen", einem Aberglauben, der sich über Jahrtausende hielt. "Man glaubte, dass eine Frau, die sich zum Beispiel vor einem Hasen erschreckt, während sie schwanger ist, ein Kind zur Welt bringt, das mit einer Hasenscharte geboren wird", so Sophie Seemann. "Das ist eine Vorstellung, die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sehr präsent war."
Die Annahme der Krankheit habe die Schuld von der Frau nehmen sollen: Nicht falsche Ernährung oder anderes Fehlverhalten sollten der Grund für die Missbildung sein, sondern ein unverschuldetes Erschrecken, sagt die Kinderärztin.

Kulturelle Aspekte mitdenken

Eine Krankheit weise nie nur naturwissenschaftliche Aspekte auf. Stattdessen gebe es auch kulturelle Aspekte, die man mitdenken müsse. Gerade die Chlorose sei dafür ein sehr gutes Beispiel. Chlorose sei eine Krankheit gewesen, die junge Mädchen im 18. Und 19. Jahrhundert befiel. Diese Patientinnen seien sehr schwach gewesen und hätten ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht nachkommen können.
"Die haben nach heutigem Verständnis eine Anämie. Aber in dem Moment, wo man Anämien besser versteht und diagnostizieren konnte, verschwand diese Krankheit. Weil sie auch sehr stark mit einer Überlastung dieser jungen Frauen verbunden war", sagt Sophie Seemann.

Vom Braumeister erfunde Krankheit

Genauso wie Krankheiten verschwänden, kämen auch ständig neue hinzu. Manchmal sogar frei erfundene, so wie der Cello-Hoden. "Angeblich eine Schädigung des Hodens dadurch, dass man zu viel Cello übt. Ausgedacht hat sich das 1979 ein Braumeister, der gar kein Arzt war, und es damit trotzdem in ein medizinisches Journal geschafft hat. Der Artikel wurde sogar mehrfach zitiert", berichtet die Kinderärztin.
Doch die Medizin gewann auch diesen Kampf und schickte den Cello-Hoden 2009 zurück ins Reich der Fantasie.
(rod)
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