Sophie Calle: "Wahre Geschichten"

Ein ganzes Menschenleben in Fragmenten

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Sas Cover des Buches von Sophie Calle, "Wahre Geschichten", auf orange-weißem Hintergrund.
"Wahre Geschichten" gehört zu einem Langzeitprojekt der Künstlerin Sophie Calle. Die Texte entwickeln enorme Sogwirlung. © Deutschlandradio / Suhrkamp
Von Eva Hepper · 20.07.2021
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Seit 40 Jahren erzählt die große französische Konzeptkünstlerin Sophie Calle ihre "wahren Geschichten". Darin legt sie – scheinbar – ihr gesamtes Leben bloß. Ein faszinierendes Werk voller Rätsel und Geheimnisse.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt ein kleines Mädchen in leichter Unschärfe auf einer Strandpromenade. Außer ihm ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Bekleidet mit einem dünnen Hängekleidchen, an den Füßen Sandalen, auf dem Kopf ein Tuch, blickt es ernst in die Kamera. Was das Kind wohl empfindet?
Begleitet wird das Porträt von einem Text. Dort schreibt die Autorin, dass das Bild vom Strand in Deauville stamme, sie damals zwei Jahre alt gewesen sei, und was ihr dort, als Kleinster in einer Gruppe von Kindern, widerfahren sei. Das Lieblingsspiel der anderen nämlich habe darin bestanden, sich lachend aus dem Staub zu machen, wenn sie sich näherte. "Wartet auf mich", hätte sie dann stets gerufen, und das sei ihr bis heute geblieben.

Grenzen zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung

Eine anrührende und wehmütig stimmende Kindheitserzählung. Allein, ob sich das Ganze wirklich so zugetragen hat, ist unklar. Denn die Episode gehört zu den sogenannten "Wahren Geschichten" der großen französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle.
Seit Jahrzehnten erforscht die 1953 in Paris geborene Calle Fragen der Identität. Dabei wandelt sie so lustvoll wie virtuos auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion, etwa, wenn sie die Grenzen verwischt zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung; zwischen privatem und öffentlichem Leben; oder zwischen tatsächlichen Begebenheiten und Konstruiertem.
So heftete sich die Künstlerin als junge Frau an die Fersen von Unbekannten und spazierte mit ihnen durch Paris. Später ließ sie sich selbst von einem Detektiv verfolgen, um seine Notizen mit ihren eigenen Erfahrungen abzugleichen. Das gefundene Adressbuch eines Fremden schließlich wurde zum Ausgangspunkt einer ihrer berühmtesten Arbeiten. Indem sie dessen Freunde aufforderte, von ihm zu erzählen, konstruierte Calle die Persönlichkeit, ohne den Mann je kennengelernt zu haben.

Verliebtsein und Verlassenwerden

Den Werkzyklus der "Wahren Geschichten" verfolgt Sophie Calle bereits mehr als ein halbes Leben lang. Viele der Fotografie-Text-Kombinationen wurden daher bereits in Ausstellungen und auch in Buchform präsentiert. Mit 65 dieser oftmals skurrilen und nur wenige Sätze langen Episoden erscheint nun das größte Konvolut im Suhrkamp Verlag. In seiner Gesamtheit liest es sich wie die Autobiografie der mittlerweile 68-jährigen Künstlerin.
Sophie Calle erzählt von Kindheitserlebnissen, von sich als Pubertierender mit zu kleinen Brüsten und von sich als junger Frau mit Heiratswunsch, von ihrem Leben als Striptease-Tänzerin, vom Verliebt-Sein und Verlassen-Werden, von Kränkungen und Schmähungen, Sehnsüchten und Träumen und damit von nicht weniger als den großen Themen: Liebe, Macht, Verlust, Einsamkeit und Tod.
Faszinierenderweise entwickeln die Texte eine enorme Sogwirkung. Einige sind schreiend komisch, andere traurig, jede Geschichte jedoch ist persönlich und intim. So konstruiert, verdichtet, komponiert oder auch (teil-)erfunden die Erlebnisse der Sophie Calle auch sein mögen, so sehr beschreiben sie die condition humaine, und damit sind sie tatsächlich "wahr".

Sophie Calle: "Wahre Geschichten"
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
141 Seiten, 22 Euro

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