Sonderliches von einem alternden Junggesellen

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 15.08.2006
Der argentinische Schriftsteller Autor César Aira, geboren 1949 am Rand der Provinz Buenos Aires, gilt als literarischer Sonderling. Er liebt Vexierspiele, papiernen Nonsens wie auch historische Spiegeleien, die das offizielle, kolonialistisch geprägte Geschichtsbild Argentiniens karikieren. In seiner satirischen Novelle von Varamos nächtlicher Erleuchtung macht Aira seinem Ruf erneut alle Ehre.
Señor Varamo, circa fünfzig Jahre alt, ist drittrangiger Schreiber eines Ministeriums in der Stadt Colón in Panama. Ein braver, unauffälliger Beamter. Er pflegt ein paar Marotten, doch durch schöngeistige Extravaganzen, etwa übertriebene Liebe zur Literatur, fällt er nicht auf. Sicherlich liest er kaum, und außerhalb der Bürozeiten zu schreiben, gar Verse zu schreiben, käme ihm weiß Gott nie in den Sinn.

An einem Tag des Jahres 1923, davon handelt die Geschichte, passiert dem Staatsdiener Sonderliches. Gegen Dienstende, hat er, es ist der Letzte eines Monats, in der Kasse des Ministeriums sein Gehalt abgeholt. Man gibt ihm zwei Hundert-Peso-Scheine, und beide sind falsch. Noch nie hat Varamo oder irgendwer sonst im jungen Staate Panama Falschgeld gesehen; nun aber steckt es in seiner Tasche, und der Schreiber hat Angst: vor Entdeckung, Entlarvung, Bestrafung.

Es gibt weitere groteske Merkwürdigkeiten an diesem Abend des alternden Junggesellen, und diese Zufälle werfen den Beamten aus der Bahn. Zur Nacht setzt Varamo sich nieder und schreibt, innerhalb von zehn oder zwölf Stunden, am Stück, ein langes Gedicht. Bei Tagesanbruch ist der Text fertig: "Der Gesang des jungfräulichen Kindes".

Das Opus, ja, die ganze Episode, so berichtet Varamos Biograf César Aira, wäre privat und geheim geblieben, "eine Blase in der Zeit und in seiner Biographie", hätte das Werk nicht rasch den Ruf eines Wunders erlangt und fortan als Meisterwerk moderner mittelamerikanischer Lyrik gegolten. Was für ein Poem, vom "Mythos des Plötzlichen" umweht, Ausgangs- und Höhepunkt avantgardistischer Sprachexperimente, eine harte Nuss für jeden Experten, da in keine Schublade einzuordnen. Ein rätselhaftes, schlicht unerklärliches Stück Literaturgeschichte; schade, dass es erfunden ist.

Autor César Aira, geboren 1949 am Rand der Provinz Buenos Aires, gilt als literarischer Sonderling. Er liebt Vexierspiele, papiernen Nonsens wie auch historische Spiegeleien, die das offizielle, kolonialistisch geprägte Geschichtsbild Argentiniens karikieren. In seiner satirischen Novelle von Varamos nächtlicher Erleuchtung macht Aira seinem Ruf erneut alle Ehre.

Der Held, Inbegriff eines inkompetenten Staatsdieners, ist eine skurrile, zugleich traurige Figur, sein Land am Isthmus eine Phantasmagorie, fast ein Alptraum, und der Autor schlüpft aus der Rolle des allwissenden Erzählers unversehens in die eines Literaturwissenschaftlers, der dem geschätzten Leser en passant auf biedere, weltfremde Gelehrtenart erklärt, wieso ein Stück Belletristik überhaupt funktioniert. Ein durch und durch ironisches Buch, elegant im Stil, auch in der deutschen Übersetzung. Purer Lesegenuss.

Ein Rezensent der FAZ befand einmal, César Aira sei "der einzige wahre Schüler von Jorge Luis Borges - und zugleich der talentierteste". An diesem Urteil mag etwas dran sein.

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2006, 120 Seiten 14,90 Euro