"Skylla"

Rezensiert von Maike Albath · 17.03.2005
Leo Brenner ist ein klassischer "Mann im besten Alter" mit allen notwendigen Attributen dieser Spezies: verheiratet mit einer deutlich jüngeren Frau, Vater einer kleinen Tochter, Anwalt in einer Kanzlei für Familienrecht und finanziell gut abgesichert, Alt-68er ohne allzu radikale Vergangenheit, ausreichend gebildet. Und wie es sich für einen Vertreter seiner Generation gehört, ist er natürlich ein großer Italienliebhaber.
Als sich der Scheidungsanwalt in einem verregneten Mai mitsamt seiner Kleinfamilie aus der Toskana in Richtung Latium flüchtet, packt ihn plötzlich der Leichtsinn: kaum hat er die karge Hügellandschaft zwischen Rom und Neapel näher kennen gelernt, will er hier ein Haus bauen. Auch seine Frau, die geheimnisvolle Lucynna, die ein abgebrochenes Archäologiestudium wie ein Vermächtnis mit sich herum schleppt, ist von der Gegend sofort fasziniert. Schließlich befindet man sich auf mythologischem Terrain: an dieser Küste soll Odysseus von Circe festgehalten worden sein, es wimmelt von Spuren der Antike, außerdem war es der Ort, an dem der römische Kaiser Tiberius in einer Grotte seine Gelage zelebrierte. In einer Kurzschlusshandlung erwirbt das Ehepaar einen Hügel als Baugrund und beginnt mit der Ausschachtung des Geländes. Nicht nur die typischen italienischen Verwicklungen gefährden das Unterfangen, auch die antiken Mythen scheinen sich plötzlich zu verselbständigen. Einige Meter unter der Erde entdeckt Lucynna ein Mosaik mit dem Motiv der Skylla, und ist wie elektrisiert: möglicherweise ließe sich mithilfe dieser Abbildung ein Fachstreit klären. Sie taucht in eine andere Welt ab und scheint an dem Hausbau, der außerdem durch einen Bruderzwist in ein unseliges Licht getaucht wird, nur noch mäßig interessiert. Doch beim Richtfest des Hauses verschwindet das Mosaik.

Peter Schneider lässt den ersten Teil seines Romans mit einem typischen cliff-hanger enden und arbeitet geschickt mit Krimi-Elementen. Nicht nur der Dieb des Mosaiks bleibt lange Zeit im Dunkeln, an allen Ecken und Enden werden Geheimnisse zu handlungstreibenden Elementen. Zum Beispiel stellt sich heraus, dass Brenner Lucynna in seiner Kanzlei kennen gelernt hatte: sie kam als Mandantin zu ihm und bat ihn um die Vertretung bei ihrem Scheidungsverfahren, ohne ihm je den Grund für die Trennung von ihrem Ehemann preiszugeben. Vielmehr scheint sie ihn bewusst zu verschweigen. Auch über den Streit der beiden Brüder, die die Alteigentümer des Hügels waren, bringt Brenner nur langsam etwas in Erfahrung. Immer wieder entpuppen sich vermeintliche Helfer auf der Baustelle - der Architekt, der Bauleiter - als ausgemachte Halunken, was erst nach und nach ans Tageslicht kommt. Und dann gibt es da das Geheimnis der Skylla: wie sah dieses weibliche Monstrum mit den reißenden Hunden anstelle des Unterleibs wirklich aus? Dynamik verleiht den Geschehnissen auch das Motiv des "Störenfrieds": wie ein böser Schatten taucht ein gewisser Paul Stirlitz auf, der ebenfalls zur 68er-Szene Berlins gehörte, aber sich anders als der selbstzufriedene Held nicht mit den Umständen zu arrangieren wusste, sondern beruflich und privat auf der Strecke blieb und jetzt als Habenichts durch Italien tingelt.

Peter Schneider teilt einige Eigenschaften mit seinem Helden: er gehört derselben Generation an, ist ebenfalls eher ein Nutznießer von '68, und er besitzt ein Haus in derselben Gegend wie Brenner. Der Roman deutet über die gegenläufigen Biographien von Brenner und Stirlitz eine kritische Auseinandersetzung mit den Vermächtnissen jener Zeit zunächst an, was dann aber im Sande verläuft. Brenner gibt den Blickwinkel des Lesers vor, denn Schneider lässt ihn als Ich-Erzähler agieren und schreibt ihm einen jovialen Tonfall auf den Leib. Abgeklärt, eher gebremst und mit einem Hang zu Rationalisierungen schildert Brenner die Vorkommnisse, und selbst als Lucynna plötzlich verschwindet, verfällt er nicht in Hysterie. Dadurch ergibt sich ein reizvoller Kontrast zu dem mythologischen Untergrund des Romans. Schneiders Skylla ist einerseits eine Milieustudie des ländlichen Italiens und ein Eheroman, andererseits aber auch eine Variation des Skylla-Mythos. In den Tiefen von Lucynnas Seele scheinen Triebe zu wüten, die denen des Frauenmonsters ähneln.

Skylla ist spannend erzählt, leicht zu lesen, trotz einiger Ungereimtheiten (welcher Rechtsanwalt kann monatelang in Italien ausspannen?) handwerklich solide gearbeitet und liefert einige unterhaltsame Einsichten in die Details des Hausbaus in Italien. Den Roman mit einem mythologischen Stoff zu unterfüttern, ist ebenfalls eine gute Idee. Allerdings schleicht sich Schneider mit dem Hinweis auf den Mythos an einer Stelle aus der schriftstellerischen Verantwortung: Lucynna ist eine flache Figur und vermag nicht zu überzeugen. Weshalb sie so große Faszination auf den Helden ausübt, erschließt sich dem Leser nicht, auch ihr mysteriöses Inneres gewinnt keine Strahlkraft. Deshalb wundert es nicht, dass einer der dramatischen Höhepunkte des Buches - Lucynna fällt ausgerechnet beim Beischlaf brutal über ihren Mann her - so sang- und klanglos verläppert. Ihre Attacke als einen Identifikationsschub mit der antiken Skylla zu erklären, wirkt wie eine fade Entschuldigung. So ist das eben. Wer sich mit den Göttern messen will, muss ihnen literarisch auch gewachsen sein.


Peter Schneider: Skylla
Roman
Rowohlt Berlin 2005
313 Seiten
19, 90 Euro