Sklavenarbeit am Río de la Plata

Von Victoria Eglau · 22.03.2010
2006 starben bei einem Brand in einer Nähwerkstatt in Buenos Aires sechs Menschen, darunter vier Minderjährige. Die Tragödie enthüllte eine Wirklichkeit, die bis dahin weitgehend im Verborgenen gelegen hatte: die Ausbeutung von überwiegend ausländischen Arbeitskräften in illegalen Nähereien.
In Argentinien leben viele Bolivianer, die ihren Hungerlohn in die arme Heimat schicken. Der Preis: bis zu 18 Stunden täglich arbeiten bei miserablen hygienischen Bedingungen.

Die argentinischen Behörden sind bisher nicht effizient dagegen vorgegangen – seit dem Brand 2006 hat sich an der Situation wenig geändert. Die Opfer haben Angst, ihre Situation anzuzeigen, denn das bedeutet, ohne Arbeit, Geld und Unterkunft zu bleiben.

Ein großer, licht- und luftdurchfluteter Raum, im Obergeschoss eines Eckhauses im sozial schwachen Süden von Buenos Aires. In einem Regal sind bunte Garnrollen aufgereiht, auf einem großen Tisch liegt Stoff zum Zuschneiden bereit. An einer Wand stehen zweireihig ein gutes Dutzend Tischchen mit Nähmaschinen. Eine Frau, 30 Jahre alt, die dunklen Haare zu einem Zopf geflochten, steppt die Stoffteile von T-Shirts zusammen.

"Ich heiße Maria Magdalena Vazquez und arbeite seit drei Jahren hier in der Kooperative La Alameda. Ich bin aus Bolivien, aus der Stadt La Paz."

Mit raschen, routinierten Bewegungen schließt Maria Magdalena eine Naht nach der anderen. In der Kooperative La Alameda arbeiten Frauen, die vorher in illegalen Nähereien ausgebeutet wurden.

Rund 3000 solcher sogenannter Sweatshops, das heißt Ausbeutungsbetriebe, gibt es in Buenos Aires, geschätzte 15.000 in der Umgebung der argentinischen Hauptstadt. Maria Magdalena wurde vor fünf Jahren in Bolivien von einer Verwandten ihres Mannes angeworben.

"Sie hat uns angelogen und uns gesagt, dass wir in Argentinien gut verdienen würden. Sie hat ausgenutzt, dass mein Mann und ich damals in wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren, wir hatten viele Schulden. Wir haben nicht lange überlegt, das wenige verkauft, was wir besaßen, und sind nach Buenos Aires gekommen. Die Fahrtkosten hat die Tante meines Mannes übernommen."

Kaum in Buenos Aires angekommen, begann das Ehepaar, bei der Tante die Schulden der Fahrt abzuarbeiten. Nicht in einem hellen, belüfteten Raum, sondern in einer in einem Wohnhaus versteckten, fensterlosen Näherei.

Zehn Landsleute beschäftigte die bolivianische Verwandte dort. Untergebracht waren wir alle in einem Zimmer über der Werkstatt, erzählt Maria Magdalena. Die Familien schliefen in den zwei Betten, die anderen Arbeiter auf Matratzen.

"Es gab ein einziges Bad für alle Arbeiter und die Chefs. Das Essen war sehr schlecht. Diese Näherei war kein menschenwürdiger Ort. Ich habe praktisch von sieben Uhr morgens bis ein Uhr nachts gearbeitet, manchmal sogar bis zwei oder drei."

Für die Schufterei habe sie hundert Pesos im Monat bekommen, erinnert sich Maria Magdalena, umgerechnet zwanzig Euro. Ihr Mann verdiente 80 bis 100 Euro. Nur am Sonntag durften sie ihre geheime Arbeits- und Schlafstätte verlassen und wurden meist in einen Park gebracht, wo die Männer Fußball spielten.

"Ich allein hätte diese Situation wohl ertragen. Aber wegen meines kleinen Sohnes hielt ich es nicht mehr aus. Er hat sehr gelitten, hat sich immer unter dem Tisch verkrochen und geweint. Die Chefin sagte, leg ihn an eine Kette! Oder, bade ihn in kaltem Wasser, dann wird er schlafen. Einmal habe ich das getan, weil mein Kind so weinte. Aber es hat mich sehr wütend gemacht. Schließlich habe ich gesagt: Ich gehe. Aber ich kannte keinen in Buenos Aires. Ich hatte Angst davor, mit meinem Sohn auf der Straße zu stehen."

Unter der Näherei-Kooperative, im Erdgeschoss, befindet sich eine Armenküche. In dem gefliesten Raum ist die Luft zum Schneiden dick. Frauen, Männer und Kinder sitzen an Plastiktischen und verzehren ein einfaches Mittagessen. Es sind bolivianische Einwanderer. Die meisten von ihnen sind aus illegalen Nähereien geflüchtet oder haben ihre Arbeit verloren.

Gustavo Vera hat sein Buero im Keller. Vera leitet La Alameda, die Organisation, die in Buenos Aires seit bald fünf Jahren gegen die Ausbeutung von Menschen in den Sweatshops kaempft. La Alameda rief nicht nur die Armenküche, eine Notunterkunft und die Kooperative ins Leben, in der Maria Magdalena Arbeit fand. Die NGO leistet den Opfern auch rechtlichen Beistand und erstattet Anzeige gegen die Verantwortlichen der Sklavenarbeit.

"Sklavenarbeit bedeutet, dass die Beschäftigten dort wohnen, wo sie arbeiten, und dass sie ihrem Chef praktisch Tag und Nacht zu Diensten sind.. Ihr Wille wird rund um die Uhr, sieben Tage pro Woche, vom Besitzer der Näherei manipuliert. Deshalb sprechen wir von Sklavenarbeit. Das ist kein ein propagandistisches Klischee, das wir verwenden."

Gustavo Vera ist um die 50, das schwarze T-Shirt spannt über seinem Bauch. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und wippt nervös mit den Füßen. Der Kampf gegen die Ausbeutung in der Textilproduktion ist eine aufreibende Aufgabe. Die Weichen für diese Ausbeutung werden bereits im Nachbarland Bolivien gestellt, sagt Vera.

"Arbeitsagenturen, Zeitungen und Radiosender veröffentlichen dort Anzeigen, die eine große Zukunft in Argentinien versprechen: Verdienst in US-Dollar, Unterkunft und Essen, und die Möglichkeit, Geld nach Hause zu schicken. Diese Jobinserate richten sich an die Ärmsten der Armen in Bolivien."

Die Arbeitsmigranten werden meist illegal über die Grenze geschleust und leben ohne Aufenthaltsgenehmigung in Argentinien. Dort verwandeln sich die recht- und mittellosen Einwanderer in Rädchen im Getriebe der umsatzstarken Bekleidungsindustrie. Rund 250.000 Personen verrichten Sklavenarbeit in illegalen Textilwerkstätten, schätzt Gustavo Vera, die meisten davon im Großraum Buenos Aires.

Die Polizei schaut oft tatenlos zu, Bestechungsgelder sind üblich. Viele Besitzer von Sweatshops sind selbst Bolivianer, bei den Auftraggebern handelt es sich um argentinische, aber auch internationale Modefirmen.
Eine altmodische Geschäftspassage mit Marmorsäulen und Stuckdecken im Zentrum von Buenos Aires. Ein gußeisener Aufzug führt in den dritten Stock zur Kanzlei von Rechtsanwalt Alejandro Pereira, einem hochgewachsenen Mann Mitte 40.

2006 leitete Pereira für einige Monate die Arbeitsbehörde der argentinischen Hauptstadt. Kurz vor seinem Antritt waren bei einem Brand in einer Näherei sechs bolivianische Einwanderer ums Leben gekommen, darunter vier Kinder.

Plötzlich interessierte sich die Öffentlichkeit für das Thema Sklavenarbeit. Pereira änderte die Politik seiner Behörde. Er ging verstärkt gegen illegale Nähereien vor, aber erstmals auch gegen die Modefirmen.

"Wenn man die Läden, die Produzenten und die illegalen Nähereien getrennt voneinander betrachtet, verschließt man die Augen davor, dass es sich um ein Problem handelt. Um ein einziges Problem."

Pereira, graumeliertes Haar, sorgfältig gekleidet, holte ein Gesetz aus der Mottenkiste, das in Argentinien bereits seit 1942 existierte, aber nie angewandt wurde: das "Gesetz zur Regelung der häuslichen Arbeit".

"Wenn Firmen Produktion auslagern, muss logischerweise das Gesetz angewandt werden, das dieses Outsourcing reguliert. Das Gesetz, das wir reaktiviert haben, macht die komplette Produktionskette für die Arbeitsbedingungen des letzten Glieds verantwortlich. Das heißt, wenn das letzte Glied der Kette, der Arbeiter in der Näherei, ausgebeutet wird, müssen sich alle Glieder bis zum ersten, der Modefirma, dafür verantworten. So haben wir versucht, gegen die illegalen Produktionsmethoden vorzugehen, die sowohl bekannte als auch weniger bekannte Modemarken anwenden."

2006, während Pereiras Zeit an der Spitze der Arbeitsbehörde, erstattete die NGO La Alameda die ersten Anzeigen gegen Textilunternehmen. Mittlerweile liegen der Justiz Anzeigen gegen 103 Firmen vor, die von Sklavenarbeit profitiert haben sollen. Auch die deutschen Marken Puma und Adidas gehören dazu. Die Argentinische Kammer der Bekleidungsindustrie will zu den Vorwürfen auch nach mehrmaligem Nachfragen keine Stellung nehmen. Es sei ein "heikles Thema", erklärt eine junge Frau am Telefon.

Der Stadtteil Palermo in Buenos Aires gilt bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen als Shopping-Paradies. "Soho" wird das Viertel genannt, in dem sich die meisten Boutiquen konzentrieren. Viele verkaufen Mode, die in Argentinien entworfen und produziert wird. In den Straßen von Palermo Soho wimmelt es von Menschen mit Einkaufstüten. Delina, Anfang 40, zierlich, mit dunklem, glatten Haar, ist noch nicht fündig geworden. Weiss sie, dass viele Modefirmen zu Hungerlöhnen produzieren lassen?

"Das Problem der Sklavenarbeit ist mir bekannt. Wenn ich Kleidung kaufe, habe ich leider keine verlässliche Informationen darüber, ob sie in einer illegalen Näherei hergestellt wurde oder nicht. Ich bin zwar keine kompulsive Konsumentin, aber ab und zu kaufe ich mir gerne etwas Schönes zum Anziehen. Ich kann dann nur hoffen, dass keine Sklavenarbeit dahinter steckt. Leider habe ich den Verdacht, dass es möglich ist."

Roberto, ein leger gekleideter Tourist aus Kolumbien mit Dreitagebart und Brille, zeigt sich überrascht von der Ausbeutung in der argentinischen Bekleidungsindustrie.

"Es ist unbegreiflich, dass im 21. Jahrhundert noch Sklavenarbeit existiert. Es müsste viel mehr Kontrollen geben: durch das argentinische Arbeitsministerium, die Polizei und die Migrationsbehörden. Die Verantwortlichen müssen bestraft, und die Nähereien geschlossen werden."

Kontrollen? Strafen? Schließungen? Gibt es Fortschritte im Kampf gegen die Sklavenarbeit in der Textilindustrie - seit dem tragischen Werkstatt-Brand vor vier Jahren? Eine Frage für Mario Ganora, der sich bei der Ombudsmann-Behoerde von Buenos Aires um das Thema kümmert und viele Anzeigen gegen Modefirmen begleitet hat. Der Jurist Ganora, dessen Halbglatze von einem grauen Haarkranz eingefasst ist, sitzt an seinem Schreibtisch hinter der Trennwand in einem Großraumbüro:

"Es gab Verbesserungen, die Behörden begannen mit Inspektionen der Betriebe. Wenn die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt wurden, verhängten sie Strafen. Inzwischen sehen wir, dass zwar Inspektionen durchgeführt werden, diese aber keine Folgen haben. Was die Sklavenarbeit angeht, herrscht in Buenos Aires heute wieder quasi Straffreiheit."
Die Ursachen dieser Entwicklung? Mario Ganora nennt den Regierungswechsel in der Stadt vor gut zwei Jahren, aber auch mögliche Korruption in den lokalen und nationalen Behörden. Er setzt seine Hoffnungen nun in die Justiz, und rechnet damit, dass in diesem Jahr ein richtungsweisendes Urteil gesprochen werden könnte.

"Es gibt ein Verfahren, in dem 14 Personen – Bolivianer, Koreaner und Chinesen - wegen Menschenhandels und Knechtschaft angeklagt sind. Bald soll der Prozess beginnen, und ich denke, bis zum Jahresende haben wir ein Ergebnis. Was die juristische Verfolgung der Sklavenarbeit angeht, wird dieses Urteil entscheidend sein."

Zurück bei La Alameda, der Anlaufstelle für Arbeiter aus illegalen Nähereien. Die Suppenküche im Erdgeschoss ist jetzt fast leer, in der Ecke läuft ein Fernseher. In seinem Kellerbüro, in dem ein Bild von Che Guevara an der Wand hängt, steckt sich Gustavo Vera eine neue Zigarette an. Dann zählt der Chef der NGO einige Erfolge im Kampf gegen die Sklavenarbeit auf:

"Die Zahl illegaler Textil-Werkstätten in Buenos Aires ist von
5000 auf 3000 gesunken, und die Zahl angemeldeter Arbeitskräfte ist um 20 bis 30 Prozent gestiegen. Es wurde ein Textilproduktionszentrum gegründet, zu dem neun Kooperativen gehören. Der größte Teil ihrer Nähmaschinen wurde in Sweatshops beschlagnahmt. Wir konnten auch verhindern, dass Argentiniens nationales Arbeitsministerium das Gesetz abschafft, das die Modefirmen für die Arbeitsbedingungen in den Nähereien zur Verantwortung zieht."

Aufgrund des "Gesetzes zur Regelung der haeuslichen Arbeit" verurteilte 2007 ein argentinischer Bundesrichter erstmals den Chef einer Näherei und den auftraggebenden Unternehmer. In Europa tragen die Firmen nur eine ethische Verantwortung, hier kann man sie wegen Sklavenarbeit verklagen, meint Gustavo Vera.

Doch tatsächlich mussten die meisten argentinischen Bekleidungsunternehmen bisher keine Strafen fürchten. Und dass es in Buenos Aires heute deutlich weniger Sweatshops gibt, liegt auch daran, dass viele vor die Tore der Stadt gezogen sind, wo die Behörden noch laxer vorgehen.

In der Kooperative La Alameda näht die Bolivianerin Maria Magdalena Vazquez das für heute letzte T-Shirt. Dann erzählt sie von ihren Landsleuten, die sich wegen Mangelernährung, Erschöpfung und rämlicher Enge mit Tuberkulose anstecken.

Während die Lungenkrankheit unter Argentiniern zurückgeht, erkranken immer mehr bolivianische Einwanderer, die meisten von ihnen Arbeiter illegaler Nähereien. Ich persönlich kann mich heute über nichts mehr beklagen, meint Maria Magdalena und legt die fertigen T-Shirts in einen Korb.

"Hier bei La Alameda habe ich meine Rechte kennengelernt, habe angefangen, mich selbst wertzuschätzen, und nicht den Mund zu halten. Ich kämpfe gerne, ich will nicht, dass meine Landsleute dasselbe durchmachen wie ich. Es soll Schluss sein mit der Sklavenarbeit."