Situationisten-Ausstellung in Berlin

Arbeitet nie und spielt den Umsturz

Filmstill aus "The Most Dangerous Game", 1932
Filmstill aus "The Most Dangerous Game", 1932 © Schoedsack / Pichel / RKO Radio Pictures
Von Simone Reber · 26.09.2018
Sie waren eine der radikalsten Avantgarde-Gruppen des 20. Jahrhunderts: Die Situationisten wollten den Schreibtisch, das Atelier, das Museum verlassen und direkt in die Gesellschaft hineinwirken. Das Berliner Haus der Kulturen der Welt erzählt ihre Geschichte.
"Ne travaillez jamais" (Arbeitet niemals) sprühte der damals 22-jährige Schriftsteller und Philosoph Guy Debord 1953 an eine Pariser Häuserwand. Die Losung wurde ein Kernsatz der Situationisten, zu deren Mitbegründern neben Debord auch der Maler Asgar Jorn zählt. Zum ersten Treffen kamen Surrealisten, Futuristen, Dadaisten, die Maler der Gruppe COBRA. Sie alle wollten es spielen – "The Most Dangerous Game", den gesellschaftlichen Umsturz.
"Die Situationistische Internationale wurde 1957 gegründet. Sie ist dann sehr schnell eine europäische Gruppierung, die über die besten Möglichkeiten verfügt. Sie ist im Grunde genommen innerhalb der künstlerischen Szene die bekannteste, aktivste, beweglichste Gruppierung 1959."

Auch die pornografischen Werke, mit denen die Vorläufer der Situationisten, die Lettristen, ihr Geld verdienten. Auf der Suche nach neuen Handlungsformen entstanden künstlerische Experimente, die bis heute nachwirken. Zum Beispiel die Gemeinschaftsarbeiten. Den Kuratoren ist ein kleiner Coup gelungen. Sie konnten ein kollektives Bild von Yves Klein, Asgar Jorn, Ralph Rumney und Maurice Wykaert aus Privatbesitz leihen. Die übermütige informelle Malerei verrät eine neue Konzeption von künstlerischer Arbeit, sagt Wolfgang Scheppe:
"Sie steht für die Überwindung der sentimentalen Vorstellung des Bürgertums vom singulären Genie. Und sie gibt eigentlich das Produkt auf. Weil nicht mehr das Produkt das eigentliche Ziel ist, sondern der Prozess des gemeinsamen Arbeitens. Also, eigentlich ist das eine Performance und die erlöscht im Moment, in dem das Bild fertig wurde."

Ein neues Babylon

Die Künstler wollten Situationen im öffentlichen Raum schaffen, durch die sich Gesellschaft verändern konnte. In Amsterdam planten sie, die Mauern des Museums zu durchbrechen, um in die Stadt hinein zu wirken. Später praktizierte der Amerikaner Gordon Matta-Clark solche Gebäudedurchbrüche, und der niederländische Architekt Rem Koolhaas wurde beeinflusst vom Situationisten Constant, der ein neues Babylon entwarf. Auch die Figur im Zentrum des situationistischen Gedankengebäudes, der spielende Mensch, wirkt im Zeitalter der Gamer ganz und gar zeitgenössisch. Aber er hat einen avantgardistischen Hintergrund, sagt Wolfgang Scheppe:
"Bei den Situationisten war der wichtigste Punkt der, dass sie aus dem Homo Ludens abgeleitet haben, eine Vorstellung davon, wie die Negation der Negation sein könnte, also die gedachte postrevolutionäre Gesellschaft. Und die gedachte postrevolutionäre Gesellschaft ist eine Vereinigung von Subjekten, die ihre Lebensumstände im Spiel selbst bestimmen."

Ein wilder Generalstreik

Diese Vorstellung führte jedoch bald dazu, dass die Künstler als Elite empfunden und deshalb schon 1962 ausgeschlossen wurden:
"Dann sind die Situationisten über die Ereignisse in Straßburg 1966, dann '67 in ganz Frankreich an den Universitäten, '68 im Frühjahr in der Universität Nanterre wesentlich dafür verantwortlich, die Konflikte, die an den Universitäten aufkochen, ständig zu befeuern und soweit von einer Kompromisslösung fernzuhalten, dass das passiert, was dann im Mai '68 ganz Frankreich erfasst, also ein wilder Generalstreik."
Roberto Ohrt und Wolfgang Scheppe zeigen an einer langen Wand Fotos der Pariser Polizeipräfektur, in denen die Härte des Konflikts zum Ausdruck kommt. Barrikaden aus Pflastersteinen sind da im nüchternen Schwarz-weiß zu sehen, ausgebrannte Autos, verletzte Demonstranten. Keine Spur mehr von der wilden rohen Malerei, den poetischen Graffiti, den Städtevisionen. Die Situationisten scheiterten, 1972 lösten sie sich auf.
Schade, dass die Werke der zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern fehlen, die heute an sie anknüpfen wie Dominique Gonzalez Foerster oder Pierre Huyghe. Auch der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija verbeugte sich vor Guy Debord, als er in großen Lettern an die Wand seiner Galerie schrieb:
"Ne travaillez jamais" (Arbeitet niemals).

"The Most Dangerous Game. Der Weg der Situationistischen Internationale in den Mai 68" ist bis zum 10. Dezember im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen, geöffnet ist dort täglich außer dienstags von 11 bis 19 Uhr.

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