Sittengemälde der silbernen Epoche

15.10.2011
Mit ihrem Roman "Besessen", für den sie 1990 den Booker-Preis erhielt, wurde Antonia S. Byatt auf einen Schlag weltbekannt. Auch ihr neuer Roman spielt wieder im gehobenen englischen Bürgertum, diesmal aber in der so genannten silbernen Epoche am Beginn des 20. Jahrhunderts.
Mit ihrem neuen Roman schließt Byatt an "Besessen" an, dieses postmoderne Bravourstück um ein (erfundenes) englisches Dichterpaar des Viktorianischen Zeitalters, mit dem die Autorin 1990 ihren internationalen Durchbruch erlebte.

Sie tut dies nicht nur ideengeschichtlich, literarisch und chronologisch, sondern auch im Anspruch, einen Ideenroman zu liefern, eine kulturelle Epoche in ihrer ganzen Komplexität in einem breit angelegten historischen Panorama zu erfassen und zugleich eine verschlungene Familiengeschichte zu erzählen.

War "Besessen" in der goldenen Hochblüte der Viktorianischen Ära angesiedelt, so konzentriert sich "Das Buch der Kinder" auf die silberne Epoche von 1895 bis 1919, umfasst also die "Edwardian Period", das englische Gegenstück zur Belle Époque, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in dem eine ganze hoffnungsvolle englische Generation unterging. Folgerichtig teilt Byatt ihren umfangreichen Roman in drei große Abschnitte ein – das Goldene, das Silberne und das Bleierne Zeitalter.

"Das Buch der Kinder" erzählt die Geschichte von nicht weniger als fünf Familien – vier englischen und einer deutschen – sowie deren anderthalb Dutzend Kindern. Diese jungen Leute decken in ihren Schicksalen, Lebensentwürfen, Sehnsüchten, Irrtümern, Liebesverstrickungen, künstlerischen und intellektuellen Bestrebungen die ganze Bandbreite der Epoche ab – in einer bestimmten Gesellschaftsklasse, dem gehobenen Bürgertum samt seinen akzeptierten und geduldeten Bohème-Rändern der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde. An diesen Rändern erweist sich das ansonsten rigide englische Klassensystem als durchlässig: Die erfolgreiche Kinderbuchautorin Olive Wellwood, eine der Hauptfiguren des Romans, steigt aus dem Bergarbeiter-Milieu ins wohlhabende Bürgertum auf; auch dem Töpferlehrling Philip gelingt der Aufstieg aus dem Industriearbeiter-Milieu zum genialen Keramiker.

Byatt überführt die Reformideen und künstlerischen Energien der Epoche in Erzählstoff. Die prägenden Geister der Zeit, Kunst- und Lebensreformer wie William Morris und John Ruskin oder die sozialreformerischen Intellektuellen der "Fabian Society" bis hin zu Bernard Shaw durchwirken mit ihren Ideen den Roman und bilden die geistige Folie, vor der Byatt ihr Personal entfaltet. Der Jugendstil imprägniert Byatts Erzählwelt, vor allem mit seinem Kunsthandwerk und seiner Keramik. So hingerissen die Autorin in den Herrlichkeiten des Jugendstils schwelgt, so kritisch betrachtet sie das Wirken der Weltverbesserer, Utopisten, Freigeister, Anarchisten, Sozialreformer und Emanzipations-Prediger der Epoche.

Dank Byatts suggestiver Erzählfreude kann sich der Leser an einem üppigen Zeitgemälde weiden, einem Wimmelbild prägnanter Figuren und unerwarteter Plot-Schwenks. Der Erzählstrom wird immer breiter und damit langsamer, bevor ihr mit «Das Bleierne Zeitalter» ein hartes, kurzes Schlusskapitel gelingt. In diesem furiosen Finale taumelt die junge Generation in den Weltkrieg und verblutet sinnlos in den Schützengräben.

Besprochen von Sigrid Löffler

Antonia S. Byatt: Das Buch der Kinder
Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011
896 Seiten, 26,00 Euro