Sir Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern

Kunst gegen Krise

Sir Simon Rattle in der Berliner Waldbühne am 24.06.2018 bei seinem letzten Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker
Gewöhnt, vor tausenden Menschen aufzutreten: Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker, hier 2018 in der Berliner Waldbühne © imago images / POP-EYE / Ben Kriemann
Moderation: Olaf Wilhelmer · 12.03.2020
"Geisterspiele" gibt es im Fußball schon seit längerem, "Geisterkonzerte" in der Klassik sind neu. Doch während die Berliner Philharmonie ihre Pforten wegen des Coronavirus schließen muss, musizieren die Berliner Philharmoniker weiter.
Der neudeutsche Ausdruck einer "viralen Verbreitung" hat in diesen Tagen einen merkwürdigen Unterton, allerdings könnte dieses Konzert tatsächlich ein solches Echo finden: Der große Saal der Berliner Philharmonie mit seinen mehr als 2.000 Plätzen bleibt auf behördliche Anordnung bis zum 19. April für das Publikum geschlossen.
Aber die Berliner Philharmoniker spielen trotzdem. Denn gefüllt ist der Saal mit Mikrofonen und Kameras – das Konzert wird live auf der philharmonischen Online-Plattform gestreamt und live im Deutschlandfunk Kultur übertragen.
Sir Simon Rattle vor den leeren Rängen der Philharmonie in Berlin 2001.
Seltene Wiederbegegnung mit den leeren Rängen der Berliner Philharmonie: Sir Simon Rattle, hier 2001 im Großen Saal des Scharoun-Baus.© imago images / Kathrin Schubert
Der Zufall will es, dass das seit langem vorgesehene Programm des Abends bestens zu diesem denkwürdigen, nie dagewesenen Anlass passt. Denn Sir Simon Rattle dirigiert Musik, die sich der Welt und einer in Bedrängnis geratenen modernen Gesellschaft explizit zuwendet.

Sinfonien aus der Neuen Welt

Mit der "Sinfonia" von Luciano Berio und dem Konzert für Orchester von Béla Bartók hat Sir Simon, der einstige Philharmoniker-Chef und jetzige Leiter des London Symphony Orchestra, zwei musikalische Meilensteine des 20. Jahrhunderts im Gepäck.
Beide Werke wurden von europäischen Komponisten in den USA geschrieben, beide für die dortigen Spitzenklangkörper maßgeschneidert: Luciano Berio schrieb die "Sinfonia" für acht Solostimmen (hier verkörpert von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart) 1968 für das New York Philharmonic und seinen damaligen Chefdirigenten Leonard Bernstein.
Der Komponist mit markanter Brille sitzt locker in einem Sessel.
Luciano Berio 1972 in Mailand.© imago images / Leemage
Berios Werk, das unter anderem Texte aus dem Buch "Das Rohe und das Gekochte" des Anthropologen Claude Lévi-Strauss verwendet, entstand unter dem Eindruck der Ermordung Martin Luther Kings – und zugleich im Bann der Mahler-Interpretationen Leonard Bernsteins. Das Scherzo von dessen Zweiter Sinfonie duchzieht Berios Musik als gedanklicher und klanglicher Hintergrund.

Musik für das Zeitalter der Extreme

Zitate, Montagen und vielseitige Bezüge in Vergangenheit und Gegenwart hinein gibt es auch bei Béla Bartók. Er schrieb das Konzert für Orchester 1943 als Emigrant in New York und in der Landschaft Neuenglands. Nur mit Mühe konnte der schwer kranke Komponist das Bett verlassen und diesen Auftrag für Sergej Kussewitzky und das Boston Symphony Orchestra ausführen.
Es sollte eines seiner bedeutendsten und erfolgreichsten Werke werden – eine "Sinfonie aus der Neuen Welt" komponiert für das "Zeitalter der Extreme". Gerade in diesen Tagen haben beide Werke nichts von ihrer Dringlichkeit verloren.
Live aus der Philharmonie Berlin
Luciano Berio
"Sinfonia" für acht Stimmen und Orchester
Konzertpause
Margarete Zander im Gespräch mit den Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart Susanne Leitz-Lorey (Sopran) und Martin Nagy (Tenor) über ihr Ensemble und ihre Arbeit mit Luciano Berio:
Béla Bartók
Konzert für Orchester Sz 116
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