Sinologin über die Digital-Macht China

"Huawei war ein Weckruf"

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Ausgestellte Huawei-Smartphones mit Logo
Kontroverse um Huawei: Die Europäer hätten den rasanten Aufstieg der Digital-Macht China verschlafen, kritisiert Kristin Shi-Kupfer. © www.imago-images.de/Mads Rasmussen
Moderation: Patrick Garber · 25.05.2019
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Der Konflikt zwischen den USA und China um das IT-Unternehmen Huawei erschüttert die Börsen. Das zeigt, wie wichtig die chinesische Digitalwirtschaft geworden ist. Für China-Expertin Kristin Shi-Kupfer ein Weckruf, besonders an die Adresse Europas.
US-Präsident Trump hat das chinesische IT-Unternehmen Huawei auf eine Schwarze Liste gesetzt: Amerikanische Firmen dürfen nun nicht mehr mit Huawei zusammenarbeiten. "Für Huawei ist das natürlich eine ziemliche Katastrophe", sagt Kristin Shi-Kupfer vom Mercator Institute for China Studies. Zwar könne China mit Handelssanktionen zurückschlagen, doch sei die Abhängigkeit der chinesischen Digitalwirtschaft von den USA größer als umgekehrt.

Wirtschaftswunder unter Partei-Kontrolle

Unter straffer Kontrolle von Staats- und Parteiführung macht China in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Quanten-Computer oder 5G schnelle Fortschritte, räumt Shi-Kupfer ein. Wie nachhaltig die seien, könne aber noch nicht beurteilt werden. Jedenfalls sei die Kontroverse um Huawei ein Weckruf, vor allem für Europa. Denn die Europäer hätten den rasanten Aufstieg der Digital-Macht China lange verschlafen.

"Potenziell eine Bedrohung"

Die chinesische Führung nutze die Zukunftstechnologien durchaus, um "einen globalen Machtanspruch geltend zu machen", meint Kristin Shi-Kupfer. Dabei gehe es den Chinesen nicht nur um Marktanteile, sondern auch darum, Einfluss auf die internationalen Standards und Normen dieser Technologien zu nehmen. Da China zudem die Cybersphäre intensiv zur Überwachung und Spionage nutze, könne dies "potenziell auch eine Bedrohung für die Welt" werden.

Chinas IT-Riesen Paroli bieten

Europa muss nach Ansicht Shi-Kupfers Antworten auf diese Herausforderungen finden: Die Digitalwirtschaft müsse gefördert werden - auch durch Zusammenschlüsse von Firmen zu Konsortien, die mit den chinesischen IT-Riesen mithalten können. Zusammenarbeit mit China bei den Zukunftstechnologien sei für Europa wichtig und nützlich, dabei müsse man aber darauf pochen, dass Spielregeln etwa beim Datenschutz eingehalten werden.

Kristin Shi-Kupfer leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien des Mercator Institute for China Studies in Berlin. Sie ist Expertin für Chinas Digitalpolitik, Ideologie und Medienpolitik, Zivilgesellschaft und Menschenrechte. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Shi-Kupfer hat an der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Von 2007 bis 2011 berichtete sie u.a. für "ZEIT Online", "taz", "epd", "Südwest Presse" und "Profil" aus Peking. 2017 wurde Shi-Kupfer in die Expertengruppe der deutsch-chinesischen Plattform Innovation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung berufen.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: (Handy-Klingelton) – Aha, mein Handy tut also noch, obwohl sein Hersteller Huawei von US-Präsident Trump auf eine Schwarze Liste gesetzt worden ist. Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China hat also auch die digitale Welt erreicht. Darüber und über die Bedeutung der Digitalwirtschaft für China spreche ich nun mit Kristin Shi-Kupfer. Sie leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft, Medien Chinas beim Mercator Institute for China Studies in Berlin.
Huawei, zweitgrößter Smartphone-Hersteller der Welt mit Sitz in China, darf nicht mehr mit US-amerikanischen Firmen zusammenarbeiten. So will es ein Dekret von Präsident Trump. – Was bedeutet das für Huawei und generell für die Digitalwirtschaft in China, Frau Shi-Kupfer?

"Für Huawei eine ziemliche Katastrophe"

Shi-Kupfer: Für Huawei ist das natürlich eine ziemliche Katastrophe. Das kann man nicht anders sagen. Das bedeutet natürlich auch für die Konsumenten von Huawei-Handys, dass sie sich ab einem gewissen Zeitpunkt möglicherweise darauf einstellen müssen, dass das Software-System Android nicht mehr mit regelmäßigen Updates versorgt wird. Das ist zum einen Sicherheitsproblem, aber zum anderen auch ein Problem, die dazugehörigen Apps würden dann möglicherweise nicht mehr funktionieren.
Das hat, denke ich, für Huawei auch nochmal ganz deutlich gemacht, wie abhängig sie sind von Softwareanbietern, Android. Und jetzt ja auch, das ist auch eine weitere Folge im Bereich Chips, das britische Unternehmen ARM hat jetzt auch die Zusammenarbeit mit Huawei im Chipbereich aufgekündigt. Das ist natürlich ein sehr sensibler Bereich, was für Huawei nochmal einen zusätzlichen Rückschritt oder eine zusätzliche Krise auch bedeutet.
Deutschlandfunk Kultur: Für die USA ist es aber wohl auch nicht so ganz ohne, denn die US-Regierung hat den Bann gegen Huawei inzwischen etwas abgemildert, weil Huawei eben Mikrochips und sonstige Komponenten im Wert von vielen Milliarden Dollar aus den USA bezieht und den amerikanischen Chipherstellern dadurch ein wichtiger Kunde abhanden kommt.
Ist die chinesische Digitalbranche inzwischen zu groß, als dass sich die USA auf die lange Dauer einen Handelskrieg in diesem Bereich mit den Chinesen erlauben könnten?
Shi-Kupfer: Richtig. Ich meine, die Digitalwirtschaft steht ja in gewisser Art und Weise für die gesamte Wirtschaft und auch für die sehr enge Verflechtung zwischen diesen beiden großen Nationen. Das sind jeweils die beiden größten Handelspartner. Es sind die beiden größten Wirtschaftsräume der Welt. Wir haben fast 700 Milliarden US-Dollar allein an Handelsvolumen im Warenbereich im letzten Jahr. China ist ja auch ein wichtiger Halter von Devisenreserven der USA. Also, es gibt einfach generell eine sehr, sehr enge Verflechtung. Natürlich ist das gerade im Digitalbereich, Digitalwirtschaft ist in beiden Ländern eine wichtige, eine boomende Branche, der Zugang zu den jeweiligen Märkten, aber natürlich dann auch zu den Zulieferern, zu den Lieferketten enorm wichtig. Das hat für beide Länder natürlich Verwerfungen dann, zieht Verwerfungen nach sich, und natürlich, wie gesagt, auch für die Konsumenten hier in Europa.

Zurückschlagen mit Seltenen Erden?

Deutschlandfunk Kultur: Kann China kontern? Kann die chinesische Regierung Gegenmaßnahmen ergreifen, die den Amerikanern wirklich wehtun würden?
Shi-Kupfer: Das ist interessant. Das wird auch in China durchaus kontrovers diskutiert. Das erste, was einem da einfällt, sind natürlich die Seltenen Erden. Da beliefert China, glaube ich, mit bis zu 80 Prozent die USA. Also 70, 80 Prozent bezieht die USA an Seltenen Erden aus China. Das wird auch unter chinesischen Experten, unter chinesischen IT-Bloggern diskutiert. Allerdings wird auch dann von anderer Seite gewarnt, dass das auch wieder eine weitere Eskalation nach sich ziehen könnte und dass die USA ja auch dabei sind, in dem Bereich sich zu diversifizieren und dass es auch nicht eigentlich im Interesse Chinas unbedingt wäre, jetzt da so hart zurückzuschießen. Weil letzten Endes auch infrage gestellt wird innerhalb Chinas, ob das wirklich ausreichend ist, da doch die Abhängigkeit aktuell doch sehr viel stärker noch von China gegenüber den USA gesehen wird.

Europa hat "zu lange geschlafen"

Deutschlandfunk Kultur: Ihr Institut, Frau Shi-Kupfer, gehört weltweit zu den größten unabhängigen Forschungseinrichtungen, die sich mit China befassen. Sie haben kürzlich eine Studie herausgebracht mit dem Titel "Chinas digitaler Aufstieg". Darin geht es nicht nur um Huawei, sondern um die gesamte Informations- und Kommunikationsbranche in China. Wie weit sind die Chinesen bei diesen Zukunftstechnologien allgemein?
Shi-Kupfer: Also, das ist natürlich je nach Technologie sehr unterschiedlich. Es ist auch gar nicht so leicht, sich da ein genaues Bild zu verschaffen. Was wir natürlich sehr gut sehen können, sind die Ambitionen, die enorm langfristigen, auch mit großzügigen staatlichen Mitteln ausgestatteten Pläne im Bereich 5G, im Bereich Quantum, im Bereich Künstliche Intelligenz – und damit dann verknüpft, auch medial immer sehr stark herausgestellt, sogenannte Leuchtturmprojekte: "Wir wollen jetzt den größten Quanten-Computer bauen" oder "wir haben die meisten 5G-Teststrecken über die längste Entfernung durchgeführt." – Und natürlich ist da auch was dran von diesem enormen Fortschritt, der mit diesen Ambitionen natürlich auch einhergeht.
Wenn man sich Patententwicklungen anschaut im Bereich Künstliche Intelligenz, da ist China jetzt sehr Kopf an Kopf mit den USA. Auch wenn man sich jetzt den Bereich Standardisierung anschaut, gerade im 5G-Bereich oder Internet der Dinge, da hat China sehr strategisch jetzt auch in den letzten Jahren in den internationalen Standardisierungsgremien wirklich auch personell mit Ressourcen rein gearbeitet und hat da auch einige internationale Standards setzen können.
Also, kurzum: Sie sind sehr ambitioniert. Sie stecken ein enormes Geld rein. Sie sind sehr schnell. Sie versuchen eben über Standards und über Marktanteile da auch ganz klar zunehmend global auch ihre Wirkkraft zu entfalten. Aber natürlich hat China, die Volksrepublik, auch schon noch enorme Schwächen in einzelnen Bereichen. Also, gerade die Abhängigkeit im Chip-Bereich ist sicherlich für all diese Technologien sehr gravierend.
Auch in China wird immer wieder diskutiert, ob eine sehr stark staatlich top-down gelenkte Innovationspolitik nur wirklich nachhaltige und auch breite Effekte erzielt, dass wirklich auch Qualität mittelfristig produziert wird und eben nicht nur diese großen Prestige-Projekte. Also, das ist nach wie vor ein sehr komplexes Bild. Aber ich glaube auf jeden Fall, hier auch in Europa müssen wir das sehr ernstnehmen, dass China da eben sehr schnell und auch in einzelnen Bereichen zunehmend erfolgreich agiert, gerade im Vergleich zu Europa.
Man muss ganz klar sagen, wenn wir auf uns selbst schauen, dass wir da einfach zu lange geschlafen haben und jetzt auch in eine Situation kommen, wo wir in Abhängigkeit geraten sind von den USA bzw. China.
Deutschlandfunk Kultur: Darauf kommen wir gleich noch. Bleiben wir erstmal bei dem von Ihnen schon angesprochenen 5G, also dem neuen Mobilfunkstandard der fünften Generation. Um den einzuführen, braucht es ja eine neue Netzwerktechnik. Da ist Huawei einer der führenden Anbieter, was aber etliche westliche Regierungen für ihre Netze nicht wollen – allen voran die USA. Kann man überhaupt ein 5G-Netz aufbauen ohne die Chinesen?
Shi-Kupfer: Also, bei aller Euphorie oder bzw. bei aller Sorge, muss man ja fast sagen natürlich viel mehr, in Bezug auf Huawei haben wir natürlich gerade in dem Bereich schon auch mit Ericsson und mit Nokia zwei gewichtige Player, gerade wenn die sich noch sicherlich stärker zusammentun würden. Das ist ja auch eine Debatte, die jetzt geführt wird, ob man in einzelnen Technologien Konsortien bildet europaweit. Aber das sind durchaus Player, die mithalten können.
Es ist auch interessant: Wenn man nach China selbst reinschaut, hat Huawei kaum oder gar keine sogar, haben wir gefunden, wenn, nur sehr wenige 5G-Verträge unterzeichnen können. Es ist auch interessant, dass da chinesische Carrier, also Telekommunikationsunternehmen, durchaus auch mit Ericsson und Nokia zusammenarbeiten, was natürlich auch so ein bisschen die Frage aufwirft: Warum? Hat das jetzt preisliche Gründe in China? Oder hat das vielleicht doch auch Qualitätsgründe? Auch da gibt es unter chinesischen IT-Experten und Bloggern durchaus Diskussionen drüber, die natürlich sagen: "Klar, Huawei ist dort führend. Sie haben viel gemacht. Sie sind technisch durchaus gut, aber auch nicht so, dass sie jetzt sozusagen meilenweit den anderen Anbietern, Ericsson und Nokia, offensichtlich überlegen sind."
Also, das darf man auch nicht vergessen bei aller Dynamik, die Huawei natürlich auch über den Preis hier in Europa zumindest entfaltet, wir haben gerade in dem Bereich durchaus auch Alternativen, über die man sehr ernsthaft nachdenken sollte.

Huawei als "besondere Sicherheitsherausforderung"

Deutschlandfunk Kultur: Bei den Vorbehalten gegen Huawei als Ausrüster für 5G, die ja nicht nur in den USA vorhanden sind, da geht es um mögliche Spionage. Also, dass in der Netzwerktechnik Made in China Hintertüren eingebaut sein könnten, durch die chinesische Sicherheitsdienste Informationen abschöpfen können. – Ist da was dran?
Shi-Kupfer: Also, letztendlich muss man ganz klar sagen, absolute Sicherheit gibt es nicht, gibt es natürlich mit keinem Anbieter in der Hinsicht. Aber bei Huawei, weil es ein chinesisches Unternehmen ist und auch ein Unternehmen, was sehr, sehr staatsnah geführt wird und sehr stark auch mit dem Parteistaat verflochten ist, auch wenn Huawei selbst sagt, dass sie eher eigentümer- oder anteilsmäßig sozusagen geführt sind, aber das hat sich als nicht korrekt erwiesen.
Aber ich glaube, aus meiner Sicht ist das eine das Sicherheitsproblem. Wie gesagt, das betrifft aber aus meiner Sicht nicht nur Huawei. Dann müsste man natürlich auch, wenn man über US-Anbieter nachdenken würde, die es jetzt in dem Fall nicht gibt, aber nicht so prominent, aber generell in Bezug auf Firmen natürlich auch das thematisieren.
Aber bei Huawei ist, glaube ich, viel wichtiger, dass es letztendlich natürlich eine politische Vertrauensfrage ist, weil sie zusätzlich zu der technischen Seite der Sicherheitsfrage ja in Bezug auf China gesetzlich die Möglichkeit haben, über das sogenannte Gesetz für nationale Sicherheit eben Unternehmen zu zwingen, im Falle von nationaler Sicherheit – was in China noch sehr viel breiter definiert ist als in den USA, also, da fällt auch so etwas wie nachhaltige Entwicklung oder soziale Stabilität darunter – dass da Unternehmen gezwungen werden könnten, Daten auch aus dem Ausland, von ausländischen Nutzern an die chinesische Regierung, an den Parteistaat zu übergeben. Das ist sicherlich etwas, was Huawei aufgrund des politischen Systems, was damit verbunden ist, auch nochmal besonders macht oder auch zu einer wirklich besonderen Sicherheitsherausforderung für andere Länder.

Globaler Machtanspruch durch Zukunftstechnologien

Deutschlandfunk Kultur: Sie schreiben in Ihrer Studie, China habe eine ausgeklügelte Strategie zur Digitalisierung, die maßgeblich von der Kommunistischen Partei vorangetrieben werde. – Was ist das Ziel der chinesischen Führung, wenn sie auch so viel Geld in die Hand nimmt für die Digitalwirtschaft? Geht’s darum, bei den Zukunftstechnologien auf Weltniveau zu kommen? Oder geht es vielleicht auch noch um mehr?
Shi-Kupfer: Also, das ist ein ganz wichtiger Punkt, die Zukunftstechnologien zu nutzen, um in der Tat auch einen globalen Machtanspruch geltend zu machen. Man hat gesehen, dass man jetzt in den traditionellen Industrien im Bereich der Produktion nicht mehr so eine Chance hat, weil da eben europäische oder auch amerikanische Anbieter führend sind. Aber jetzt durch wirklich, wie Sie gesagt haben, enorme Investitionen, aber auch durch einfach eine Geschwindigkeit dadurch, dass Ressourcen gebündelt und gelenkt werden können von diesem Parteistaat, erhofft man sich genau das, also dass man auch die eigenen Standards dann global auch entlang der Seidenstraßeninitiative, da gibt es ja auch eine digitale Seidenstraßeninitiative…

Politisch konform dank Big Data

Deutschlandfunk Kultur: Also, dieses große Infrastrukturprojekt, das die chinesische Regierung so im Bereich Straßen, Häfen bauen, Kommunikationsnetze entwickeln angeschoben hat.
Shi-Kupfer: Richtig, genau. Das hat sozusagen auch eine digitale Komponente. Da geht’s dann eben auch um den Bau nicht nur von Straßen, sondern von kritischen Infrastrukturen, von Datenzentren. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, diese internationale Seite.
Aber natürlich auch im eigenen Land die Wirtschaft anzukurbeln, neues Wachstum zu generieren durch Digitalwirtschaft, die also jetzt vom Umfang her schon, es gibt Zahlen, bis zu einem Drittel des chinesischen BIP-Wachstums ausmachen soll in den letzten Jahren, und natürlich dadurch auch die alten maroden Industrien, die Staatsunternehmen sozusagen upzugraden, ans Internet anzuschließen. Da schaut man ja auch sehr nach Deutschland, dieses ganze Thema Industrie 4.0, dass man da die Digitalisierung auch nutzt, um das produzierende Gewerbe doch auch etwas effizienter und auch wettbewerbsfähiger zu machen.
Und der dritte Aspekt, wenn ich das noch kurz anreißen darf, das können wir nochmal vertiefen, da geht’s natürlich auch um eine gesellschaftliche Kontrolle, um eine – so wie die chinesische Regierung sagt – "Durchsetzung von Gesetzen". Das sogenannte soziale Bonitätssystem ist dann auch mit Hilfe von Big Data und von Überwachungstechnologien dazu gedacht, wie die chinesische Regierung sagt, "ein gesetzestreues Verhalten zu fördern", aber, wie man ganz klar auch sagen muss, eben auch politisch konformes Verhalten von Bürgern und auch von Unternehmen zu schaffen.

Exportschlager Gesichtserkennung

Deutschlandfunk Kultur: Frau Shi-Kupfer, was Sie gerade angesprochen haben, betrifft ja den Bereich Datenschutz, Datensicherheit. Damit ist es in China bekanntlich nicht so weit her. Der Staat beobachtet das Treiben seiner Bürger im Cyberspace und auch durch Überwachungskameras mit Gesichtserkennung im realen Leben sehr genau und sammelt gewaltige Mengen an Daten.
Dieser digitale Überwachungsstaat, der da in China implementiert wird, könnte der auch ein Exportschlager werden – so wie Handys und Netzwerkausrüstung jetzt?
Shi-Kupfer: Der ist teilweise sogar schon ein, Exportschlager ist vielleicht zu viel gesagt, aber zumindest ein Exportprodukt. Man exportiert also schon gezielt vor allen Dingen nach Afrika. Es gab ein Abkommen mit der nigerianischen Regierung, beispielsweise Kameras aufzustellen, also Facial Recognition voranzutreiben.
Deutschlandfunk Kultur: Also Gesichtserkennung.
Shi-Kupfer: Genau, vielen Dank, Gesichtserkennung voranzutreiben. Es werden auch Kooperationen ausgelotet im Mittleren Osten, auch in Zentralasien, auch in Lateinamerika. Also, gerade dieser Aspekt Gesichtserkennung ist etwas, was man bewusst auch ins Ausland exportiert. Auch mit dem Hintergedanken, um die eigenen Unternehmen dadurch wettbewerbsfähiger zu machen, weil man ja auch selber nochmal durch so eine Kooperation neue Daten bekommt, also andere Phänotypen, andere Gesichter, und diese Erfahrung natürlich dann auch wieder nutzen kann, um dann die eigenen Unternehmen sozusagen auch global noch einflussreicher und wettbewerbsfähiger zu machen.
Deutschlandfunk Kultur: Diese Unmengen von Daten, die chinesische Behörden über ihre Bürger, aber auch über Unternehmen sammeln, sollen einmal in dieses von Ihnen schon erwähnte sogenannte "gesellschaftliche Bonitätssystem" einfließen. Das heißt, wenn ich das richtig verstanden habe: Aufgrund dieser Daten wird das Verhalten von Menschen und auch von Firmen bewertet. Und je nachdem, wie gut es der Führung passt, mit Vergünstigungen belohnt oder auch mit Sanktionen bestraft. – Klingt gruselig, aber ist ja erstmal ein innerchinesisches Phänomen, oder?
Shi-Kupfer: Das ist natürlich zunächst mal ein innerchinesisches Phänomen. Das ist richtig. Allerdings ist vorgesehen, und das wird ja teilweise auch implementiert, das ist noch kein in sich geschlossenes System, das muss man sicherlich auch noch abwarten, wie die einzelnen Komponenten da zusammenfinden, aber kurz gesagt: Beispielsweise der Bereich von Schwarzen Listen, sozusagen für Unternehmen, die ihre Steuererklärung zu spät einreichen oder gar nicht einreichen oder die auch bei Lizenzen oder bei Umweltauflagen gegen Gesetze verstoßen haben, das ist auch etwas, was ausländische Unternehmen genauso betrifft.
Da kann man natürlich sagen, das ist ja im Prinzip gut, wenn dadurch gesetzeskonformes und letztendlich ja auch förderliches Verhalten damit stärker durchgesetzt wird. Allerdings hat das auch immer, und das sehen wir im Moment nur in Ansätzen, eine politische Komponente. Da geht es dann schon auch darum, wer wann, welcher Manager Äußerungen getroffen hat, die sozusagen als förderlich für China empfunden werden oder eher als Beleidigung der Gefühle der chinesischen Bevölkerung. Also, wir hatten solche Vorfälle im ganz Kleinen jetzt eher mit chinesischen, aber auch asiatischen Managern. Das ist noch, wie gesagt, sehr im Pilotstadium, aber natürlich ist nicht völlig auszuschließen, dass das auch etwas ist, was dann auf ausländische Manager und CEOs übertragen wird. Oder Kategorien, die dann sehr dehnbar sind, wie Beitrag zur sozialen Stabilität oder zur nachhaltigen Entwicklung im nationalen Interesse, das sind ja dann oft sehr dehnbare Kategorien, die natürlich auch benutzt werden können. Wenn man jemanden politisch ausschalten möchte oder kaltstellen möchte, kann man das dann möglicherweise auch nutzen, um da jemanden abzustrafen.

Chinas Ambitionen können eine Bedrohung werden

Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir das mal zusammennehmen, das Streben nach technologischer Führerschaft, auch, was Sie ja schon angesprochen haben, danach mitzusprechen bei der Normsetzung, also, was technische Normen und Standards international angeht, und auch diese Überwachungsmechanismen: Ist Chinas ambitionierte Digitalstrategie also eine Bedrohung für den Rest der Welt, so wie die US-Regierung das behauptet? Kann es eine Bedrohung werden?
Shi-Kupfer: Es kann eine Bedrohung werden. Das hängt sicherlich sehr stark davon ab, wie sich China auch innenpolitisch weiterentwickelt, was natürlich teilweise jetzt auch mit den Auseinandersetzungen mit den USA zu tun hat. Aber natürlich muss man sagen, auf der einen Seite, wenn chinesische Unternehmen wirklich qualitativ hochwertige Lösungen anbieten, auch gerade im Konsumentenbereich, oder wenn chinesische Forschungsinstitute kooperieren und auch transparent und eben nachhaltig, auch was Datenschutz, Datensicherheit angeht, mit ausländischen Universitäten kooperieren, ist das sicherlich was, wo auch beide Seiten von profitieren können. Man kann sicherlich in dem Bereich von China auch sehr, sehr viel lernen.
Aber es hängt eben sehr stark davon ab, wie das politisch auch genutzt wird bzw. wie sehr es dann auch auf den einzelnen Ebenen die Bereitschaft gibt, sich auch an Spielregeln zu halten, die aus unserer Sicht und teilweise auch aus chinesischer Sicht, aus unternehmerischer Sicht oder auch aus Sicht von Konsumenten eben wichtig sind, um das nachhaltig und transparent zu gestalten und nicht einen einseitigen Technologieabfluss zu haben oder einen unethischen Umgang mit Forschungsdaten.
Also, das muss nicht per se eine Bedrohung sein, aber wenn es natürlich in ein nationalistisches, vielleicht auch eher militärisch geprägtes Fahrwasser gerät, jetzt auch gerade durch die Auseinandersetzung mit den USA als Zeichen von nationaler Stärke und Unabhängigkeit, eher sehr aggressiv genutzt wird und weniger kooperativ auch verstanden wird, dann ist es natürlich schon eine sehr ernsthafte Herausforderung bzw. potenziell auch eine Bedrohung für die Welt.

Die militärische Komponente

Deutschlandfunk Kultur: Weil Sie "militärisch" sagten, gibt es auch eine militärische Komponente bei diesem chinesischen digitalen Aufrüstungs- oder zumindest Intensivierungsprogramm?
Shi-Kupfer: Die gibt es. Die gibt es natürlich auch vor allen Dingen in den USA, die sehr enge Verflechtung, sprich, zivile militärische Integration. Das fängt an bei Forschungskooperationen zwischen Verteidigungsuniversitäten in China, teilweise auch von Unternehmen, die Aufträge oder auch Patente, die dann offengelegt worden sind, von Seiten des Militärs bekommen haben, um dort weiter dran zu arbeiten.
Also, viele dieser neuen Technologien, denken wir an Quantum-Verschlüsselung, beispielsweise auch an Sensorik, Künstliche Intelligenz ganz klar, haben eine militärische Komponente, die China natürlich auch vorantreibt und nutzt. Das ist natürlich etwas, was man auch immer im Hinterkopf haben muss, wenn man sich beispielsweise entschließt, im Bereich von KI, Künstlicher Intelligenz oder Quantum oder anderen Technologien mit China zu kooperieren.
Aber das ist in der Tat etwas, was auch eine durchaus gewichtige militärische Komponente hat.

Herausforderungen für Europa

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben, Frau Shi-Kupfer, Ihre Studie über Chinas digitalen Aufstieg mit dem Untertitel versehen: "Herausforderung für Europa". – Was sind die Herausforderungen für Europa? Ein bisschen haben wir es ja schon angesprochen.
Shi-Kupfer: Ich glaube, es sind vor allen Dingen drei Herausforderungen. Zum einen auf einer wettbewerbspolitischen Ebene. Chinesische Firmen kommen nach Europa, investieren hier, versuchen Marktanteile sich zu sichern, was an sich – wie gesagt – ja kein Problem ist, begrüßenswert ist. Aber es ist eben ein unfairer Wettbewerb. Es ist ein Wettbewerb, der stark subventioniert wird aus China heraus, was sich auch preislich abbildet, was sich auch durch bestimmte nicht monetäre Unterstützung, aber einfach in der gezielten Zuweisung von Marktsegmenten in China dann für chinesische Unternehmen niederschlägt, die sie dann nutzen können, um Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die sie dann hier in Europa anbieten können. Und natürlich haben wir auch die mangelnde Reziprozität. Das haben wir in vielen wirtschaftlichen Kontexten mit China, dass eben europäische oder auch amerikanische Unternehmen nicht adäquat in diesem digitalen Bereich in China investieren und aktiv werden können.
Also, wir haben die erste Herausforderung im Bereich des unfairen Wettbewerbs. Dann haben wir eine zweite Herausforderung im Bereich Datensicherheit. Da gehört Spionage dazu. Da gehört aber natürlich auch so etwas wie Schutz von privaten Daten von Konsumenten dazu. Wenn chinesische Unternehmen hier auch Nutzerdaten von europäischen Konsumenten sammeln, was passiert dann mit denen? Es gibt ja keinen adäquaten Datenschutz wie hier bei uns in Europa in China. Diese Daten werden aber von chinesischen Unternehmen zurückgeführt. Also, was passiert damit?
Und dann haben wir eine dritte Herausforderung, die das alles praktisch so umarmt, sage ich mal. Das ist letztendlich eine ideologische Herausforderung. Es geht eben um unterschiedliche Vorstellungen auch im ethischen Bereich, wie man mit Daten umgeht, wie man aber auch Transparenz definiert, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet, was Pluralismus bedeutet, welche Akteure wie in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, wie transparent letztendlich auch politische Entscheidungen gemacht werden und wie kritisch auch berichtet werden kann über Unternehmensaktivitäten. Das ist dann wirklich der sogenannte systemische Wettbewerb, der ja auch von europäischer Seite angesprochen worden ist – letztendlich nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Bereich.

Zusammenarbeit mit "gewissen Spielregeln"

Deutschlandfunk Kultur: Wie sollte sich die EU aufstellen, um diesen Herausforderungen, die ja alle irgendwie miteinander zusammenhängen, zu begegnen?
Shi-Kupfer: Ich glaube, wir müssen dreierlei machen. Wir müssen, ganz grob gesagt, einerseits natürlich hier uns in Europa selber stärker aufstellen. Wir müssen aktiver Industrien oder auch Firmenkonsortien fördern. Wir müssen sicherlich auch Dinge weiter verfolgen, die ja schon angelaufen sind: Der digitale einheitliche Markt, auch eine stärkere Zusammenarbeit im Bereich Cyber Security, beispielsweise auch Stichwort Investment Screening, also eine gezieltere Absprache und auch ein etwas verbindlicheres genaueres Untersuchen von chinesischen Investitionen im Digitalbereich.
Zum Zweiten, denke ich, müssen wir auch hinschauen, wo wir mit anderen Ländern außerhalb Europas uns noch stärker absprechen und auch kooperieren können – sei es mit den USA, sei es aber auch mit Japan und Korea, mit denen ja auch die EU jetzt engere Beziehungen im Bereich Cyber beispielsweise oder auch Daten-Verkehr jetzt eingehen will. Natürlich auch im Forschungsbereich AI, Künstliche Intelligenz, da sind sicherlich Japan und Korea auch wichtige Ansprechpartner.
Und eine dritte Komponente dieser europäischen Antwort ist, natürlich schon auch schauen, wo man gezielt mit chinesischen Akteuren kooperieren kann. Damit auch nicht in China gerade jetzt innerhalb – ich sage mal – der breiteren Eliten, auch innerhalb der Privatunternehmer, auch innerhalb von jungen Chinesen, die als Talente ja auch interessant sind für europäische Unternehmen, nicht der Eindruck entsteht, es geht jetzt generell gegen alles, was chinesisch ist, oder es geht nur pauschal darum, alles zurückzuweisen und abzublocken, was aus China kommt.
Ich glaube, da muss dann auch ein klares Signal gesetzt werden: Ja, wir wollen kooperieren in einzelnen Bereichen, aber zu gewissen Spielregeln, die für eine gewisse Nachhaltigkeit und Transparenz dann auch im Bereich Künstliche Intelligenz, Standards, Internet der Dinge stehen. Ich glaube, das ist auch ein ganz wichtiges Signal für chinesische Akteure, wenn wir China nicht nur als Kommunistische Partei denken, und das sollten wir nicht tun, aber dass man da auch ein Signal setzt: Wir möchten kooperieren, auch von eurer Expertise profitieren, aber eben zu Bedingungen, von denen wir denken, dass sie für beide Seiten eine Garantie sind, dass es eine konstruktive Zusammenarbeit ist.

Europa braucht "gewichtigere Player"

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben jetzt bei der Rede über Europa die ganze Zeit "wir" gesagt. Gibt es denn eine Wir-China-Politik der Europäischen Union oder gibt es ganz verschiedene China-Politiken der einzelnen Mitgliedsländer?
Shi-Kupfer: Ja, das ist natürlich genau die richtige und wichtige Frage. Ich würde mal sagen, es gibt Versuche. Es ist ja in der letzten Zeit schon auch einiges passiert, sowohl auf der Ebene der Institutionen. Die Europäische Kommission hat ja nochmal im März auch ein Grundsatzpapier mit Empfehlungen vorgelegt, jetzt auch natürlich bei der so wichtigen Abstimmung von 5G. Klar ist, das ist dann auch letztendlich wieder Ländersache. Da ist ja jetzt die Aufforderung, bis Frühsommer und dann endgültig bis Herbst, jedes Land soll dort Vorschläge, Empfehlungen zurückspiegeln in die Institutionen, wie sie gedenken, jetzt mit dieser 5G-Huawei-Herausforderung umzugehen.
Also, auf institutioneller Ebene ist sicherlich, denke ich, einiges passiert, auch gerade im Bereich Cyber einfach das Bewusstsein, dass es letztendlich nur gemeinsam geht. Aber natürlich wünscht man sich da als Europäer, deswegen sage ich auch "wir", dass es da mehr solcher Initiativen gibt und vielleicht auch – natürlich ist das auch nicht immer einfach – zunächst mal bilaterale oder trilaterale Initiativen von Deutschland und Frankreich beispielsweise. Wo ja das auch angedacht wird, dass es eben Forschungszentren in einzelnen Technologien gibt, die dann einfach von der Größe her ganz andere Projekte aufsetzen können. Oder der Ruf: Wir brauchen eigentlich einen Airbus im Daten- oder im Digitalbereich, einfach ein Unternehmen auf europäischer Ebene, das mit den chinesischen Akteuren da mithalten kann.
Da kommen wir natürlich wieder hier bei uns intern in den Bereich von Monopol- und Wettbewerbsverzerrung. Ich glaube, das sind auch Dinge, die wir hier nochmal hier in Europa überdenken müssen. Dann immer pauschal zu sagen, das können wir nicht erlauben, das schafft ein Marktmonopol – ja, auf der anderen Seite brauchen wir aber gewichtigere Player, wenn wir jetzt wirklich mit chinesischen oder auch amerikanischen Unternehmen da mithalten wollen.
Ich glaube, da ist schon einiges auf den Weg gekommen. Natürlich war jetzt Huawei da auch ein Weckruf, denke ich, für viele europäische Länder, auch für die Institutionen. Es ist eigentlich zu hoffen, dass diese Dynamik, dass diese, glaube ich, nun doch Erkenntnis, wir müssen da jetzt dringend was tun, sich auch noch mehr und mehr in konkreten Initiativen niederschlägt.
Deutschlandfunk Kultur: Kristin Shi-Kupfer vom Mercator Institute for China Studies, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Shi-Kupfer: Sehr gerne.
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