Sinnvolle Suche

03.08.2009
In seinem Roman "Nikolski" erzählt der kanadische Schriftsteller Nicolas Dickner von einem jungen indianischen Schatzsucher, einem Archäologiestudenten und einer angehende Piratin auf der Suche nach Orientierung und Identität.
Das zentrale Instrument zur Weltorientierung ist defekt in diesem Roman. Der Kompass, den der namenlose Ich-Erzähler hütet wie einen Schatz, zeigt nicht nach Norden, sondern verweist auf einen winzigen Ort, noch hinter Alaska, auf den Aleuten: Nikolski.

Kostbar ist dieses eigensinnige Messgerät, weil es dem Vater des Erzählers gehörte, einem landkranken Matrosen, der sich davonstahl, als das Fernweh zu groß wurde.

Ein Kompass, der auf einen Abwesenden zielt, das ist eine der zentralen Metaphern von Nicolas Dickners weit gespanntem Erzählpanorama, das drei junge Menschen beim Versuch, sich zu orientieren und ihre Identität zu gestalten, begleitet. Auch die beiden anderen Helden sind Nomaden, die zwischen Montréal und Venezuela ihre Sinnsuche betreiben.

Da ist Noah, Sohn einer Indianerin aus Portage La Prairie, die mit ihrem Wohnwagen durch die Prärieprovinzen zieht. Ein angehender Archäologiestudent, der in Montréal strandet wie ein trauriger Wal und erst durch den Job als Fahrradkurier das Navigieren im Großstadtleben lernt.

Hinzu kommt Joyce, eine junge Frau aus Tête-à-Baleine am Nordufer des St. Lorenz, einem der größten Flüsse der Welt. Sie läuft ihrer Fischerfamilie davon, weil ihre Berufung eine viel wildere ist, als Lachse fangen: Sie will Piratin werden. Auch sie geht in Montréal vor Anker, um sich gleich in die Datenströme des Internet zu stürzen. Dort plant sie revolutionäre Aktionen, ganz wie sie einer postmodernen Seeräuberin angemessen sind.

Nicolas Dickner choreografiert die Biografien seiner Helden zu einer abenteuerlichen Fahrt, in der neben dem Nikolski-Kompass zwei weitere Motive bestimmend werden: Das "dreiköpfige Buch ohne Einband", ein aus drei Texten zusammengeleimtes Kompendium, das Schatzsucher-Geschichte, historische Abhandlung über Seeräuber und Biografie eines Schiffbrüchigen in einem ist. Und der Müll, für den sich Noah als Archäologe und Volkskundler interessiert und den Joyce auf ihren nächtlichen Streifzügen über die Schrottplätze sondiert (sie sucht Computerteile für ihre digitale Revolte).

Natürlich ist "Nikolski" selbst dieses dreiköpfige Buch. Dickner porträtiert in Noah einen Schatzsucher, der die indianische Vorgeschichte ausgraben will, buchstäblich und auch ideell, in seiner eigenen Vita. Die Seeräuberin ist Joyce, ihre Piraterie eine Form der Selbstermächtigung in einer verwalteten, zweckorientierten Welt. Gestrandete sind sie, wie der namenlose Ich-Erzähler auch, weil die Schmelztiegelstadt Montréal zwar ein kosmopolitischer Hafen sein kann, aber kein endgültiges Zuhause für diese vagabundieren Selbstsucher.

Bei der Vermessung seiner Erzählwelt hat sich Dickner viel dramaturgische Freiheit gestattet, vielleicht ein wenig zu viel. Die zahlreichen maritimen, nautischen und geografischen Exkurse beschweren den Text und kokettieren gleichzeitig mit dem eigenen Verfahren, ein postmodernes Textsortengemisch zu sein. Auch dass die Erzähllinien letztlich nicht zu einem Zusammenhang arrangiert werden, der eine Denkrichtung, eine bestimmte Haltung erkennbar werden ließe, ist ein Mangel des Textes.

Andererseits: Das dynamische Hin und Her dreier Menschen, die sich gerade ihren Begriff von Professionalität und Beruf, Liebe und Intimität bilden, kann vielleicht gar nicht aufgehen in einem strammen Erzählkurs.

Besprochen von Daniel Haas

Nicolas Dickner: Nikolski
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2009
302 Seiten, 19,90 Euro