Simon van der Gees: "Krasshüpfer"

Geheimnisse müssen raus

Maikäfer
Ein Maikäfer startet von einem Finger. © picture-alliance / dpa / Foto: Patrick Pleul
Von Gesa Ufer · 18.04.2016
Der elfjährige Hidde ist verschlossen und liebt seine Insekten. Sein älterer Brude Jedde ist der Draufgänger in der Familie. Simon van der Gees erzählt in seinem Hörbuch "Krasshüpfer" von einem packenden Bruderkampf, der so manche Überraschung parat hält.
Mitreißen, packend und sehr ungewöhnlich kommt diese Geschichte daher, die vieles von einem Kriegstagebuch in sich hat. Wenigstens empfindet es der elfjährige Hidde so, denn der Streit mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Jedde ist heftig. Der Grund für diesen kriegerischen Zwist ist der geheime Keller im Gartenschuppen. Hier leben Hiddes leidenschaftlich geliebte Insekten.
"Ich habe stunden- nein tagelang nach neuen Insekten gesucht. Im Wald. Auf der Heide, auch Äckern. Ich habe alle Terrarien Stück für Stück eingerichtet. Mit Zweigen, Erde, Sand und Muscheln. Ich habe Lämpchen anmontiert , ich habe kleine Leitern anmontiert für die Rosenkäfer. Aus meinem alten Eisenbahntunnel hab ich einen Kletterfelsen für die Grillen gemacht. Ich habe sogar ein Blinklicht für mein Glühwürmchen gebaut, damit es sich nicht so allein fühlt. Mein Labor ist das Schönste, was ich habe."

Ein düsteres Geheimnis

Simon van der Geest lässt in "Krasshüpfer" seine Hörer zu Hiddes Mitwissern und Vertrauten werden. Man bekommt nicht nur leidenschaftlich Einzelheiten über Würmer, Käfer und Fliegen erklärt, sondern taucht auch tief ins Innenleben des Jungen ein. Und da brodelt ein schwerer Gewissenskonflikt. Denn den Keller darf Hidde nur dank einer stillen Übereinkunft mit seinem Bruder nutzen. Es ist die Gegenleistung dafür, dass er ein düsteres Geheimnis für sich behält.
"Ich kenne dich nicht, trotzdem erzähle ich dir alles, jemand muss es ja erfahren. Du sollst aber verstehen, was ich Dir auflade. Wenn du das hier gelesen hast, gibt es keinen Weg zurück!"
Der Konflikt zwischen den Brüdern bricht erst mit dem Tag auf, als der ältere, Jedde, sich nicht mehr an die Abmachung hält und den Keller für sich beansprucht. Er will den Keller als Probenraum für seine Band. Und stellt Hidde ein Ultimatum: In nur einer Woche soll er den Keller räumen. Sonst – so Jedde – killt er die Insekten. Der Countdown läuft, und beide Seiten fahren immer härtere Geschütze auf:
"Jeppe packte die Bremse mit zwei Fingern, betrachtete sie ruhig. ´Stich doch, wenn Du noch kannst`, dachte ich. ´Stich, wenn Du noch kannst.`Jeppe zog ihr ein Beinchen aus. ´Wann wirst Du einpacken?` Ich hörte ihre Flügel zittern. ´Diese Woche`, sagte ich."

Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten

Simon van der Geest zeichnet das feinsinnige Bild zweier Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Während der ruppige Jeppe in einer Band spielt und jede Menge Freunde und Verehrerinnen hat, widmet sich der verschlossene Hidde still und allein seinen Ohrenkneifern, Gottesanbeterinnen und Wespensorten.
Die Tiere sind Hidde sogar weit vertrauter als die eigene merkwürdig entrückte Mutter, die sich nach dem rätselhaften Tod ihres dritten Sohnes mehr und mehr in ihre Trauer zurückgezogen hat.
"Abends kommt sie erst spät nachhause. Auch dann merkt man kaum, dass sie da ist. Sie ist plötzlich im Zimmer ´He, mein Junge`, flüstert sie dann. Oder sie steht schon wer weiß wie lange da und schaut mich an. Manchmal kommt sie früher nach Hause, dann essen wir zu dritt aber sogar dann – ich schaue zu ihrem Stuhl. Ich sehe, dass jemand darauf sitzt, sie lächelt, sie ist da. Und trotzdem vermisse ich sie."
Nach und nach wird die Tragweite und Wucht des düsteren Geheimnisses spürbar, das erst im letzten Teil dieser packenden fast sechsstündigen Lesung aufgelöst wird. Eine wahrhaft mitreißende Lesung. Martin Baltscheit, findet genau den richtigen Ton, um den unterschiedlichen Figuren eine Stimme zu geben.
Die zarte Verletzlichkeit der Mutter spricht er so überzeugend wie die Großmäuligkeit ihres älteren Sohnes. In der Rolle des introvertierten Hidde hingegen hätte eine weniger erwachsene, ruhigere Klangfarbe besser gepasst. Das aber ist die einzige Einschränkung bei diesem auch musikalisch immer wieder stimmig abgesetzten Hörbuch, dessen Geschichte sich vielschichtig und beklemmend zuspitzt, um dann doch ein überraschendes Ende zu nehmen.
"Geheimnisse müssen erzählt werden, sie müssen herauskriechen, sonst fressen sie einen von Innen auf."

Simon van der Geest: "Krasshüpfer"
Hörbuch:
Gelesen von Martin Baltscheit, Igel Records, 2016
4 CDs Seiten, 24,95 Euro