Sigmar Gabriel: "Neuvermessungen"

Schulz hat den Hype, Gabriel die Hypothesen

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Buchcover "Neuvermessungen" und Bundesaußenminister Gabriel (SPD) am 05.06.2017 in Ankara (Türkei). © Verlag Kiepenheuer&Witsch/picture alliance/dpa/Foto: Gregor Fischer
Von Paul Stänner · 10.06.2017
Sigmar Gabriel ist nicht mehr SPD-Chef, aber er ist schneller als seine Partei mit einem Programm zur Hand. In seinem Buch "Neuvermessungen" schielt er auf die "klugen Liberalen", die sich der SPD annähern könnten.
Als Ende Mai die SPD in Berlin nach Einladung, Ausladung, Einladung ihr Eckpunkte-Papier doch noch vorstellen wollte, wurde wegen eines Bombenalarms das Willy-Brandt-Haus geräumt. In der Poststelle war ein verdächtiges Paket gefunden worden. Manche vermuteten sofort, darin seien die Eckpunkte gewesen, die Partei und Öffentlichkeit so lange vermisst hatten. Aber der Alarm war nicht durch neue Positionen ausgelöst worden, sondern er war von Anfang an ein Fehlalarm.
An der vollständigen Sammlung der Eckpunkte wird noch immer gearbeitet, obwohl Sigmar Gabriel, der Vorläufer des eckpunkteschwachen Martin Schulz, schon Anfang Mai seine persönlichen Koordinaten in einem Buch vorgelegt hatte. Die hätte die SPD übernehmen können. Aber dann wäre sie nicht die SPD.

Die Eliten sind vom Volk getrennt

Gabriels Neuvermessung der Welt, die er im Gefolge von Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß und Daniel Kehlmann ankündigt, hat im wesentlichen diese Globalströmungen gefunden: die Verschiebung des Welthandels mit neuen Akteuren wie Indien und China, die Digitalisierung der Welt und insbesondere der Wirtschaft, die Migration und die wachsende außenpolitische und militärische Unsicherheit.
"Was tun?", fragte Gabriel wie früher schon Lenin und man hofft, er findet bessere Antworten als seinerzeit der Russe. Vor allem, weil er konstatieren muss, dass die Eliten - auch die der Politik - durch eine breite Kluft von den Bürgern getrennt sind.
"Große Teile der Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien waren es, die drei Jahrzehnte lang erzählten, dass die Unterwerfung unter den alles beherrschenden Wettbewerben und Verwertungsgesetze der Globalisierung alternativlos seien."
Diese Unterwerfungsarie des Neoliberalismus unter den gottgleichen Markt hängt Gabriel nun geschmeidig Angela Merkel an. Aber seinen eigenen Gerhard Schröder übersieht er geflissentlich. Daraus ergibt sich eine gewisse Schieflage, von der sich das Buch nur schwer erholt.

Inszenierung als intellektuelle Führungsfigur der SPD

Wie auch immer, Bürger und Politik sind getrennt und müssen wieder zueinander finden. Dafür hat Gabriel dieses Buch geschrieben. Gleichsam um sich als intellektuelle Führungsfigur der SPD zu inszenieren, wenn er schon nicht mehr die Führungsfigur auf den Plakaten ist. "Seht her", könnte er sagen, "Schulz hat den Hype, ich aber habe die Hypothesen!"
Hypothese A): Ohne gesunde Wirtschaft ist alles nichts. Dies betrifft vor allem die unteren und mittleren Einkommen, die in den letzten Jahrzehnten enorm gelitten haben. Menschen, die mit Elend und Aussichtslosigkeit konfrontiert sind, neigen dazu, sich extremen Ideologien anzuschließen. Die aktuellste Gefahr besteht für Gabriel im Zulauf zur AfD.
Hypothese B): Wir stärken die EU. Das heißt: gemeinsame Außenpolitik, gemeinsame Grenzsicherung, gemeinsam getragene innere Sicherheit, Wiederbelebung des Wohlstandsversprechens durch Investitionen, Weiterentwicklung des Binnenmarkts zu einer sozialen Marktwirtschaft.
Wir sehen eine EU, die es nicht geschafft hat, von ihren Bewohnern geliebt zu werden. "Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt", so wird Jacques Delors von Sigmar Gabriel zitiert. Und wenn das stimmt, wird auch sein Wohlstandsversprechen nicht weiterhelfen. Aber selbst wenn – wie will er die EU zu einer Stärkung gemeinsamer Positionen führen, wenn er nicht sagt, wie umgehen mit den Orbáns, Kaczynskis und Seehofers?

Viele Konjunktive lassen viele Wünsche offen

Auf Seite 36 geht es um Nationalismus, hier um amerikanischen Nationalismus versus europäischen Nationalismus. Neuvermesser Gabriel hat auf zwei kurzen Seiten einen Kompass aufzeigen wollen, nach dem zu verfahren sei. Dort steht sieben Mal das Wort "sollten", einmal "könnte", einmal "wäre" und zweimal "wenn". Wenn wir nur könnten, wie wir sollten – was wäre das schön!
Kommen wir zur Bildung, Voraussetzung für Wohlstand:
"Man wünscht sich ein paar der mutigen Ordoliberalen zurück, die derart erhobene Steuern alle in die Bildung stecken wollten…"
Auch die Digitalisierung taucht auf, als Chance und als Gefahr:
"Das digitale Zeitalter kann schnell zur Wiederbelebung marktradikaler Fantasien führen, lästige Mitbestimmungsstrukturen loszuwerden. (...) Letztlich ist das der alte neoliberale Wein in neuen digitalen Schläuchen."
Wein in digitalen Schläuchen – es muss wirklich mehr Geld in die Bildung.

Am Schluss lauert ein Koalitionsangebot

Richtig Spaß macht Gabriel in den letzten beiden Kapiteln, wenn er seine Berliner SPD abmeiert, die es nicht geschafft hat, den notorischen Sarrazin auszuschließen (wobei er vermutet, die Genossen hätten dessen Buch nicht gelesen). Oder wenn er über die neue bürgerliche Rechte herzieht, die – auch das kennen wir aus den 20er-, 30er-Jahren – kräftig mithetzt und es nachher nicht gewesen sein will.
Gabriel gibt den weitsichtigen Neuvermesser, den nüchternen Humboldt der Sozialdemokratie, der den Kosmos sozial und politisch neu kartiert. Man kann Sigmar Gabriel in allen seinen Problembeschreibungen zustimmen. Die stehen ja auch in allen Zeitungen. Aber mit den Wenns und Solltes und Möchtes - was sollen wir damit anfangen?
Es ist Wahlkampf. Sigmar von Humboldt ist auf der Suche nach seinem Aimé Bonpland, mit dem er den Orinoco hinabschippern kann. Und da liest man in seinem Buch immer wieder wohlwollend – nein, keinen Namen, aber eine Gattungsbezeichnung: den klugen Liberalen, auch den: Ordoliberalen und den Urliberalen, Seit an Seit mit dem Ursozialdemokraten. Damit ist eine Koalitionsaussage nicht eben geradeheraus formuliert, aber doch in den Raum gestellt.
Jetzt muss auch Martin Schulz ein Buch mit Hypothesen schreiben.

Sigmar Gabriel: Neuvermessungen - Was da alles auf uns zukommt und worauf es jetzt ankommt
Kiepenheuer&Witsch
240 Seiten, 16,99 Euro

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