Sigitas Parulskis: Vorbild des Ritterromans

Sigitas Parulskis im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 02.06.2009
Der Autor Sigitas Parulskis hinterfragt kritisch das in seinem Land und weltweit vorherrschende Streben nach materiellem Wohlstand und nennt sich augenzwinkernd einen Idealisten. In Bezug auf Europa wünscht sich der Litauer in der Gesprächsreihe "Vor der Europawahl" eine fröhliche Artusrunde, in der alle Mitgliedsländer gleichberechtigt zusammensitzen.
Matthias Hanselmann: Europa wählt! Am kommenden Sonntag sind die Menschen in den deutschsprachigen Ländern aufgefordert, die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes zu bestimmen. Vom 4. bis zum 7. Juni wird in 27 Ländern abgestimmt werden. Aus Anlass der Europawahl sprechen wir jeweils um diese Zeit mit Schriftstellern aus einigen der mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten der vergangenen fünf Jahre - das täglich bis Freitag. Und am Samstag dann widmen wir uns in der Sendung "Im Gespräch" zwei Stunden dem Thema Europa hier im "Radiofeuilleton" von 9 bis 11 Uhr. Unser Gast heute kommt aus dem kleinen Beitrittsland Litauen, mit rund 3,4 Millionen Einwohnern. Sein Name ist Sigitas Parulskis, er ist Jahrgang 1965. Sein erster Roman "Drei Sekunden Himmel", in dem er seine Erfahrungen als Angehöriger einer sowjetischen Fallschirmjägerdivision in der Nähe von Cottbus verarbeitet hat, wurde vom litauischen Schriftstellerverband als das beste Buch des Jahres 2002 ausgezeichnet. Im Jahr 2004 bekam er für sein bisheriges Schaffen den Nationalpreis der Republik Litauen zuerkannt. "Drei Sekunden Himmel" wird zurzeit verfilmt. Ich habe mich vor der Sendung mit Sigitas Parulskis unterhalten und ihn zunächst gefragt, wie groß nach seinem Eindruck das Interesse der litauischen Bevölkerung an Europa ist.

Sigitas Parulskis: Die gebildeten Leute in Litauen haben sich immer für Europa interessiert, auch während sie noch Teil der Sowjetunion waren, und haben eigentlich auch immer gedacht, dass Litauen zu Europa gehört. Und insofern ist der Eintritt in die EU eigentlich nur eine Formalität gewesen für viele Litauer.
Aber es gibt natürlich auch Ängste und Beschwerden schon, und zwar vornehmlich unter Leuten, die sich nicht so sehr besonders für den Rest der Welt interessieren, und das sind Ängste, die besonders kultureller Natur sind. Das heißt, sie haben eigentlich Angst vor dieser Multikulturalität und denken, dass Litauen und die Litauer sich dann vollständig assimilieren müssen an irgendetwas. Und diese Ängste gibt es auf jeden Fall.

Hanselmann: Litauen hat ja eine bewegte Geschichte hinter sich. Unter anderem war es einmal sehr groß und in einem Vielvölkerstaat, in einem großen Verbund, nämlich in Polen-Litauen. Spielt diese Tatsache für Sie als Litauer heute noch eine Rolle?

Parulskis: Ja, das ist sehr stark noch im litauischen Bewusstsein, genau darauf zielte eigentlich auch die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit ab in dem doch sehr, sehr präsenten Bewusstsein einer einstigen sehr starken und auch sehr alten Tradition von Staatlichkeit und eben genau von demokratischer Staatlichkeit. Und die Geschichte ist zweifellos ein sehr wichtiger Teil des litauischen Bewusstseins und der Identität.

Hanselmann: Ich glaube, ein guter Punkt, noch mal auf das zurückzukommen, was Sie vorhin erwähnt hatten, diese Angst vor Multikulturalität in Litauen: Wie groß ist sie beziehungsweise äußert sie sich eventuell in einem übersteigerten litauischen Nationalstolz oder etwas Vergleichbarem?

Parulskis: So stark ist der Nationalismus in Litauen eigentlich nicht. Er ist nicht stärker als anderswo, aber je weiter sich die Demokratie auch in der Gesellschaft fortpflanzt, umso mehr kleinere Gruppen finden sich auch in der Gesellschaft und kleinere Splitterparteien auch. Und unter diesen gibt’s natürlich auch wieder nationalistische Parteien. Aber wie gesagt, deren Stärke ist nicht so groß, wie man vielleicht von außen annehmen könnte.

Hanselmann: Die frühere Zugehörigkeit zur Sowjetunion spielt in Litauen eine nach wie vor große Rolle, und Sie selbst, Herr Parulskis, waren ja als junger Mann in der Sowjetarmee und damals sogar in der DDR stationiert, nämlich in der Nähe von Cottbus. In Ihrem Roman "Drei Sekunden Himmel" verarbeiten Sie diese Erfahrungen. Wie haben Sie diese Zeit als Litauer in Deutschland erlebt?

Parulskis: Ich kann darüber, also über Ostdeutschland, nicht sehr viel sagen, weil wir uns natürlich in einem geschlossenen Terrain befunden haben. Ich habe auf Ostdeutschland durch einen Zaun geblickt. Wir sind nachts durch Städte marschiert, und der Rest der Beschäftigung auf ostdeutschem Boden beschränkte sich auf Übungen auf gewaltigen Schießplätzen und Absprüngen mit dem Fallschirm. Es war also keine Touristenreise in die DDR, sondern eben ein sehr, sehr harter geschlossener Armeedienst.

Hanselmann: Und das Ganze nannte man damals deutsch-sowjetische Freundschaft.

Parulskis: Eine wirklich große Freundschaft hat es damals sicher nicht gegeben. Es war alles sehr formal.

Hanselmann: Sie sind im Jahr 1965 geboren, und ich möchte mal auf Ihren Roman zu sprechen kommen erneut. Da sagt der Protagonist: Ich gehöre zur russifiziertesten, verdummtesten, mit Atheismus am meisten vollgestopften Generation, die außerdem an nichts glaubt. Es ist einfach eine von feigen, angepassten Eltern erzogene Generation unreifer und unerfüllter Versager. Das ist Ihre Romanfigur, wie gesagt. Gibt es aber diese Versagergeneration wirklich oder ist sie rein fiktiver Natur?

Parulskis: Literatur hat immer eine sehr, sehr enge Verbindung und Verflechtung mit der Wirklichkeit, allerdings ist hier sicher kein soziologisches Abbild der Wirklichkeit erdacht worden oder wird dargestellt. Allerdings, es ist schwer zu sagen, und ich kann nicht genau sagen, ob es wirklich so ist oder ob es nicht so ist.

Hanselmann: Dann muss ich es noch mal konkreter fragen: Wie viele unreife und unerfüllte Versager begegnen Ihnen denn in Ihrem Leben?

Parulskis: Dazu müsste man den Begriff des Versagers genauer definieren. Ein Versager ist wohl nicht negativ konnotiert, sondern ist wohl eher eine Person oder eben Figur, die sich in der Gesellschaft einfach nicht so gut und so schnell anpassen kann. Und das ist ein Mensch, der eigentlich ja auch mit nicht unbedingt nur negativen Eigenschaften ausgestattet ist.

Hanselmann: Sie haben in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Die Zeit" gesagt, und das ist in diesem Zusammenhang auch nicht uninteressant und das ist nicht der Protagonist aus Ihrem Buch – Sie haben gesagt, Litauen versinke wie alle postkommunistischen Länder allmählich in einem seligen, bürgerlichen, spießigen Leben, Litauen ahmt das im Westen existierende langweilige Lebensmodell nach. Was meinen Sie damit?

Parulskis: Es bezieht sich auf die Ideale oder Ziele, die die Menschen in Litauen haben und seit der Wende besonders haben, und da geht es doch eher um materiellen Wohlstand. Wer ein gutes Auto, ein schönes Haus oder eine gute Wohnung und grundsätzlich eben materiell sehr gut versorgt lebt. Das ist sicher ein Phänomen weltweit, dass die Menschen danach streben, und so ist es auch in Litauen. Vielleicht bin ich selbst ein Idealist oder ein Romantiker und vielleicht sollten ja Autoren grundsätzlich auch Idealisten und Romantiker sein.

Hanselmann: Warum eigentlich nicht. Und da hänge ich die Frage ran: Wie würden Sie sich denn Ihr Land wünschen als Romantiker, als Idealist, was wären für Sie optimale Lebensbedingungen in Litauen?

Parulskis: Utopien für die ganze litauische Gesellschaft habe ich nicht. Es ist einfach nur ein Wunsch, dass die Leute vielleicht mehr denken und nicht nur, Entschuldigung, zum Fressen und Scheißen auf der Welt sind und dass sie nicht so platt und gleichgeschaltet sind, wie sich’s im Moment gestaltet. Das heißt, es gibt natürlich nicht die Möglichkeit, ein Land nach eigenen Vorstellungen und nach eigenen Utopien oder Idealen umzugestalten, aber dieser Wunsch, der besteht doch.

Hanselmann: Wenn Sie Ihr Land Litauen sehen als eines von 27 Ländern in Europa, haben Sie denn ein Bewusstsein dafür, dass es eines dieser 27 Länder ist, und was wünschen Sie sich von Europa, was versprechen Sie sich davon, wenn überhaupt?

Parulskis: Es gibt dieses Bild aus dem Ritterroman, vermutlich aus dem Artushof, dass alle Ritter in fröhlicher Runde an einem runden Tisch zusammensitzen. Das heißt, dass es keine Plätze gibt, die mehr in der Mitte oder in irgendeiner Hierarchie sind, sondern dass alle einfach gleich um diesen Tisch herum sitzen und in dieser Runde halt zusammen sich tun und sein können.

Hanselmann: Und so würden Sie sich Europa wünschen?

Parulskis: Wahrscheinlich!?

Hanselmann: Und letzte Frage: Was machen Sie am 7. Juni? Gehen Sie wählen?

Parulskis: Das weiß ich noch nicht genau. Ich war schließlich jetzt zwei Monate im Ausland und habe die Dinge nicht so ganz genau verfolgt. Entweder ich trinke oder ich gehe wählen.

Hanselmann: Sigitas Parulskis hält sich also Alternativen offen. Er ist Autor des Buches "Drei Sekunden Himmel" aus dem Litauischen von Claudia Sinnig, die auch unser Gespräch übersetzt hat. Erschienen ist das Buch im Claassen-Verlag Berlin. Morgen bei uns um diese Zeit zu Gast der Schriftsteller Michal Hvorecky aus der Slowakei.

Übersetzung Claudia Sinnig