"Sie haben jeden Grund, alle polizeilichen Maßnahmen auszuschöpfen"

Reinhardt Merkel im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 06.05.2011
Die USA seien das Hauptziel des internationalen Terrorismus, deswegen bekämpfen sie ihn zu Recht mit harten Mitteln, sagt Rechtsphilosoph Reinhardt Merkel. Ob die gezielte Tötung bin Ladens legitim war, bleibe weiter schwierig.
Matthias Hanselmann: Die Potsdamer Juristin Sybille Tönnies schrieb gestern im "Berliner Tagesspiegel" über die Tötung des Terroristenführers Osama bin Laden, Zitat:

"Es war rechtswidrig, bin Laden wie einen Hund zur Strecke zu bringen. Schon innerhalb eines Staates ist ein solches Vorgehen nur ausnahmsweise als finaler Todesschuss erlaubt. Um so schwerwiegender ist der Rechtsbruch, wenn er außerhalb der nationalen Grenzen geschieht."

Zitat Ende. Ich habe mich zu diesem Thema mit dem Rechtsphilosophen Reinhardt Merkel von der Universität Hamburg unterhalten und ihn gefragt, wie seine Meinung dazu ist. Herr Merkel, hatten die Amerikaner ein Recht darauf, Osama bin Laden zu töten?

Reinhardt Merkel: Nun, um ehrlich zu sein, die Frage ist ein bisschen komplizierter. Sie ist auch komplizierter als die etwas apodiktische Aussage von Frau Tönnies es erkennen lässt: Wenn Osama bin Laden ein legitimes Kriegsziel war, dann durfte man ihn gezielt töten. Ob man das wie einen Hund abschießen nennt, tut nicht zur Sache. Allerdings habe ich erhebliche Zweifel, dass er als legitimes Kriegsziel betrachtet werden konnte. Die Amerikaner haben aber ihren Krieg gegen den Terror immer als etwas mehr denn eine bloße Metapher verstanden.

Ich meine allerdings, gegenüber Al Kaida zu unrecht. Dann bleibt die Frage offen, darf man einen Schwerverbrecher gezielt erschießen? Für die Taten, die er mal begangen hat, und für die er vor ein Gericht gehört, darf man ihn auf gar keinen Fall gezielt erschießen. Das ist ein internationaler Standard von Menschenrechten, dass nur, wer verurteilt worden ist, allenfalls einer solchen Exekution unterzogen werden darf. Aber die zweite Frage, die offen bleibt: Wie darf man mit Personen umgehen im Hinblick darauf, dass sie permanente gegenwärtige und zukünftige Gefahren darstellen? Und da wird die Frage schwierig.

Hanselmann: Was – noch einmal – rechtfertigt dann seine Tötung aus Ihrer Sicht?

Merkel: Nun, wie gesagt, es bleibt da nur die Behandlung als Verbrecher. Die Taten, die er begangen hat, legitimieren seine gezielte Tötung auf gar keinen Fall. Aber er ist, wenn Sie so wollen – innerstaatlich, würden wir sagen –, eine polizeiliche Gefahr, er ist eine permanente, weiterdauernde Gefahr. Er ist die Integrations-, die Motivations-, die Finanzierungsfigur eines internationalen Terrorismus – nach wie vor gewesen, auch wenn er keine Kommandostrukturen mehr oder Kommandofäden mehr in der Hand gehalten hat. Das rechtfertigt zu sagen, er ist eine fortdauernde Gefahr, auch für die USA, aber weltweit für potenzielle Ziele von Terroranschlägen.

Dann darf aber die gezielte Tötung nur ein letztes, unabdingbar notwendiges Mittel sein, also wenn die Elitesoldaten dort ihn nicht anders festnehmen konnten oder ausschalten konnten als mit einem gezielten Schuss in den Kopf, und wenn sie auf anderen Wegen, also mit milderen Mitteln, die zu einer Festnahme hätten führen können, eigene tödliche Verluste hätten in Kauf nehmen können. Dann war der gezielte Schuss legitimierbar, mit allen sozusagen Bauchschmerzen, die man als jemand, der mit Rechtsprinzipien umgeht, dabei hat. Gleichwohl dann wäre er legitimierbar gewesen, nach allem was wir jetzt wissen, nach den diversen Versionen, die wir von der US-Regierung zu hören bekommen haben, war das nicht der Fall. Man hätte ihn gefahrlos festnehmen und entfernen können – so sieht es jedenfalls aus. Wenn das der Fall war, dann ist unter allen denkbaren Gesichtspunkten die gezielte Tötung illegitim.

Hanselmann: Durfte eigentlich die USA in Pakistan überhaupt aktiv werden, auch wenn die pakistanische Regierung nicht zugestimmt hat? Ist das durch irgendwelche UN-Resolutionen abgesichert?

Merkel: Das ist der zweite Aspekt jetzt bei der Sache. Das ist aber – um ehrlich zu sein – gegenüber der Primärfrage, darf man jemanden gezielt in den Kopf schießen, eher eine Marginalie, ein sekundärer Aspekt, aber immerhin ein genuin völkerrechtlicher. Was die USA gemacht haben, ist zunächst einmal eine Verletzung der völkerrechtlichen Hoheitsrechte Pakistans, der Souveränität. Wenn es ein Recht gab, bin Laden festzunehmen – und dieses Recht gab es, das Recht, ihn festzunehmen, gab es –, als den Anführer einer gefährlichen Terrororganisation, dann war Pakistan verpflichtet, mit dem Staat zu kooperieren, der das primäre Ziel dieser Terrororganisation gewesen ist und wahrscheinlich weiter sein wird, nämlich mit den USA.

Diese Verpflichtung ergibt sich jedenfalls aus einer UNO-Sicherheitsratsresolution von 2001. Nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York hat der Sicherheitsrat eine Art Gesetzgebungsfunktion für die Welt angenommen, hat – kraft seiner Zuständigkeit zum Erhalt des Friedens –, alle Staaten verpflichtet, gegenüber der Friedensbedrohung organisierter internationaler Terror zu kooperieren, Maßnahmen zu ergreifen.

Wenn die USA – und dafür gab es gute Gründe! – sich gesagt haben, wir können das besser als die Pakistanis, außerdem ist nicht ganz sicher, ob, wenn wir Pakistans Regierung informieren, da nicht was durchgesteckt wird an bin Laden selber – und dafür gab es Gründe, das anzunehmen – wenn die USA das annehmen konnten, dann durften sie die Hoheitsrechte Pakistans verletzen. Sie haben sie zwar verletzt, sind aber dafür gerechtfertigt.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit dem Rechtsphilosophen Reinhardt Merkel von der Universität Hamburg. Herr Merkel, der Fall bin Laden hat unser Augenmerk wieder ein wenig abgelenkt vom Fall Libyen. Ist der Einsatz von westlichen Truppen in Libyen genau so legalisiert wie der Einsatz gegen Osama bin Laden unter bestimmten Bedingungen?

Merkel: Das ist ein anderer Fall, aber da muss man vor allem unterscheiden. Sie haben jetzt das Stichwort Legalisierung gebraucht, Völkerrechtler würden sagen, eine formelle Legalisierung hat der UNO-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1973 für die Intervention geliefert. Diese formale Legalisierung entbindet den Rechtsphilosophen, aber auch den Völkerrechtler nicht von der Frage: Ist das legitim gewesen? Durfte der Sicherheitsrat das tun?

Ich persönlich bin überzeugt, er hat seine rechtlichen Grenzen überschritten, also formell legal ist die Intervention zunächst einmal gewesen, ich halte sie nach wie vor für illegitim, und die Frage, ob Gaddafi zum Ziel eines tödlichen Schlags gemacht werden darf, ist davon noch einmal zu unterscheiden: Das darf er nicht einmal in den Grenzen, die die Sicherheitsrat-Resolution den Intervenierenden gesteckt hat. Nur zum Schutz der Zivilbevölkerung darf man intervenieren. Man darf nicht das Staatsoberhaupt Libyens zum Gegenstand eines tödlichen Anschlags machen.

Hanselmann: Sie sprechen vom Schutz der Zivilbevölkerung. Gaddafi, hat der nicht den Krieg gegen seine Zivilbevölkerung erklärt, liegen hier nicht Bürgerkriegsverbrechen seitens Gaddafi vor, die einen solchen Einsatz legitimieren würden?

Merkel: Nun, hier muss man wirklich deutlich auseinanderhalten. Das gewaltsame Vorgehen gegen bewaffnete Rebellen ist kein Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. Diese Unterscheidung ist in unseren Medien in der Diskussion fast niemals gemacht worden. Sie ist aber substanziell und notwendig. Ob Gaddafi nach Ausbruch der bürgerkriegsähnlichen – jetzt ist das ein handfester Bürgerkrieg – der zunächst bürgerkriegsähnlichen Unruhen gegenüber seiner Zivilbevölkerung Verbrechen begangen hat, ist nach wie vor unklar.

Wir haben keine hinreichenden Belege dafür – sehr wohl hat er davor gegenüber friedlichen Demonstranten eindeutig Verbrechen begehen lassen. Da gab es schon offenbar mehrere hundert Todesopfer, da wurden friedlich demonstrierende Menschen zusammengeschossen. Das sind Verbrechen, dafür gehört er vor ein Gericht. Das sind aber auf gar keinen Fall ausreichende Gründe für einen Krieg. Der Krieg hat bisher über 20.000 Opfer gefordert, nach Schätzungen der USA. Das muss man mitbedenken, wenn man sagt: Das ist doch ein Verbrecher! Lasst uns den dingfest machen! Um welchen Preis? Um den Preis der Verletzung der Grundlagen des Völkerrechts – Kriegsverbot. Und um den Preis des Lebens von Tausenden von libyschen Zivilisten heute. Das legitimiert den Krieg nicht. Dass Gaddafi ein großer Schurke ist, steht außer Streit.

Hanselmann: Wie schätzen Sie die Rolle des UN-Sicherheitsrates ein? Ist er auf dem Wege zu einer Art Weltregierung?

Merkel: Ja, der Sicherheitsrat zieht zunehmend Kompetenzen an sich, um militärische Schläge zu autorisieren, Interventionen zu autorisieren. Das war zu begrüßen in den letzten 10, 15 Jahren, soweit es um die Verhinderung von Völkermord oder flächendeckenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit ging. Das war eine legitime Erweiterung der Zuständigkeiten des Sicherheitsrats nach der UNO-Charta, das ist auch akzeptiert worden von den Staaten. Genau so ist es akzeptiert worden, die Ausweitung der Sicherheitsratszuständigkeit zur Bekämpfung des internationalen Terrors.

Aber nun beginnen eine Reihe von Fragen. Es gibt bei Völkerrechtlern seit einigen Jahren erhebliche Bedenken, dass der Sicherheitsrat sich Zuständigkeiten anmaßt, die ihm nicht zukommen. Er ist nicht die Weltregierung, er kann es nicht werden und darf es nicht werden, das würde auch von den Staaten nicht akzeptiert. Und was jetzt in Libyen passiert ist – der Sicherheitsrat hat versucht, mit vagen Formulierungen Grenzen zu setzen für die militärische Intervention, die Formulierungen waren so vage, dass die Resolution längst – seit Wochen – von den NATO-Intervenierenden überschritten und damit, das muss man deutlich sagen, missbraucht wird.

Der Sicherheitsrat als Institution ist desavouiert und diskreditiert worden von der NATO jetzt durch die hemmungslose Überschreitung der Grenzen, die er der Intervention gesteckt hat. Man sagt jetzt einfach, alles was man tut – das Bombardieren eines Wohnhauses des jüngsten Sohnes Gaddafis, der mit der Regierung nichts zu schaffen hat, weil man Gaddafi in diesem Haus vermutet –, wird deklariert als Schutz der libyschen Zivilisten. Das alles ist – um ehrlich zu sein – der Beleg dafür, wie in juristischen Termini eine Rabulistik betrieben werden kann, die den aufmerksamen Laien nur abstoßen kann. Das desavouiert leider den Sicherheitsrat als Institution – ich finde das hochbedauerlich.

Hanselmann: Lassen Sie uns vielleicht zum Schluss noch ganz kurz zurückkommen auf den Fall bin Laden. Ist die von den USA geführte NATO auf dem Wege zur Weltpolizei? Frau Tönnies von der Uni Potsdam meint: Es war die Weltpolizei im Einsatz.

Merkel: In einem gewissen Sinn stimmt das, aber es ist die Weltpolizei gewesen mit einem primären Fokus auf das eigene Land. Die USA sind das Primärziel des internationalen organisierten Terrors. Sie haben jeden Grund, alle polizeilichen Möglichkeiten auszuschöpfen, den Terror zu bekämpfen, und sie tun das, und ich meine, das tun sie allerdings zu Recht – unter Berufung darauf, dass sie das für die gesamte freie Welt mit tun. Die können das am Besten, die Amerikaner. Der Terror muss bekämpft werden, die Staaten sind verpflichtet zur Kooperation, soweit es also die Bekämpfung des internationalen Terrors betrifft, habe ich nichts dagegen.

Hanselmann: Vielen Dank! Über die Rechtsmäßigkeit des Vorgehens der USA gegen Osama bin Laden und über die Rolle der USA als Weltpolizei habe ich mit Reinhardt Merkel gesprochen. Er ist Rechtsphilosoph und Rechtswissenschaftler an der Universität in Hamburg.
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