Sicher leben im Moloch

Von Markus Rimmele · 02.05.2013
Chinas Metropolen gehören zu den größten weltweit. Doch im Gegensatz zu schwer regierbaren Megastädten in anderen Teilen der Welt, lebt es sich in Chinas Städten vergleichsweise sicher. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl, sogar sicherer als in München. Eine Ursachenforschung.
"Shanghai bei Nacht ist eine Stadt, die keine Nacht kennt. Prunkvolle Lichter, Autogeräusche, Tanzen und Singen. Schau in ihr lachendes Gesicht, wer kann da noch traurig sein?!"

"Shanghai bei Nacht" – ein berühmter Filmschlager aus vorkommunistischen China. Er besingt das Shanghai der wilden Jahre, als die halbkoloniale Stadt ein sündiger Schmelztiegel war - so will es jedenfalls der Mythos. Unter dem Schutzmantel der westlichen Mächte blühten in der Hafenmetropole am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Geschäft und Handel, aber auch Gesetzlosigkeit, Gewalt und Prostitution.

Sechs Jahrzehnte nach der kommunistischen Machtübernahme und drei Jahrzehnte nach dem Beginn der marktwirtschaftlichen Reformen unter Deng Xiaoping ist Shanghais Nachtleben heute wieder voll in Fahrt.

Das Stadtviertel der ehemaligen französischen Konzession hat sich zu einer beliebten Anlaufstelle der globalen Hipster-Szene entwickelt mit Bars, Kneipen, Clubs, die sich vor denen in anderen Weltstädten nicht mehr verstecken müssen. Die Nächte sind lang in Shanghai.

Doch mit dem Shanghai der Dreißigerjahre hat die heutige Szenerie wenig gemein. Von sichtbarer Gesetzlosigkeit keine Spur. Verwahrlosung ist die Ausnahme. Und Gewaltverbrechen auf offener Straße sind eine große Seltenheit – vor allem gegenüber Ausländern.

Aarti Koya wohnt seit 2010 in Shanghai. Die 33-jährige Inderin arbeitet als Finanzanalystin. Sie ist von Mumbai hergezogen und liebt ihr Leben in Shanghai.

"Ich finde Shanghai sehr viel sicherer als Mumbai. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind sicher. Man kann jederzeit in den Bus oder die U-Bahn steigen. Da ist nie das Gefühl von Gefahr. Genauso ist es in den Taxis. Ich fahre damit allein mitten in der Nacht, wenn ich von Partys zurückkomme. Dabei habe ich mich noch nie bedroht oder unwohl gefühlt. In Mumbai hingegen würde ich nachts nur ungern allein öffentliche Verkehrsmittel oder Taxis benutzen."

Aarti Koya zieht sich gern auch mal gewagt an, wenn sie ausgeht. Das würde sie sich in Indien nicht trauen aus Angst vor Übergriffen und Vergewaltigung, sagt sie. Selbst tagsüber ist sie dort vorsichtig.

"Wenn ich in Mumbai zum Einkaufen gehe oder ins Kino oder zum Kaffeetrinken, achte ich auf meine Kleidung, also dass ich nicht zu viel Haut oder zu viel Bein zeige. In Shanghai hingegen muss ich daran keinen Gedanken verschwenden. Wenn ich etwas anziehen will, ziehe ich es an - zu jeder Tageszeit. Und das hat einfach mit den Blicken und Kommentaren zu tun, die ich in Mumbai auf mich ziehen würde im Gegensatz zu Shanghai."

Nicht nur Frauen schwärmen von der Sicherheit auf den Straßen von Shanghai, Peking oder Guangzhou. Brasilianische Männer etwa erzählen, wie wohltuend es sei, nicht ständig auf der Hut sein zu müssen wie zu Hause in Sao Paolo. Von den Erfahrungen der Südafrikaner ganz zu schweigen.

Verlässliche Kriminalitätsstatistiken sind für Chinas Metropolen schwer zu bekommen. Einer Untersuchung der East China Normal University zufolge werden in Shanghai pro 10.000 Einwohner gerechnet weniger Verbrechen begangen als in München. Die Mordrate in China, so eine Statistik der Vereinten Nationen, ist etwa gleich hoch wie in Deutschland.

Das ist keineswegs selbstverständlich. China ist ein Schwellenland, in seiner Entwicklung eher vergleichbar mit Indien oder Brasilien als mit der sozial integrierten Bundesrepublik. In Chinas Städten klaffen die Einkommensverhältnisse in nahezu abenteuerlicher Weise auseinander. Die Superreichen fahren ihre Maseratis spazieren, trinken französische Weinraritäten, besitzen Privatjets. Gleichzeitig leben etwa in Shanghai 10 Millionen Zuwanderer aus anderen Provinzen Chinas, meist Wanderarbeiter, die im Monat nur vier- bis fünfhundert Euro verdienen und auf engstem Raum ohne jeden Komfort leben. Trotzdem gibt es in der Stadt keine No-go-areas, wenig soziale Verwahrlosung und keine Revolten gegen die Reichen.

Der 34-jährige Shanghaier Zhao Junyuan lebte neun Jahre lang in Deutschland. Geprägt von dieser Erfahrung, staunt er mittlerweile selbst über den sozialen Frieden in seiner Heimatstadt:

"Die soziale Kluft und der Hass auf die Reichen sind ernste Probleme in China. Doch das schlägt sich nicht in der Kriminalität nieder. Man spürt das nicht im Alltag. Solang sich ein Reicher nicht allzu arrogant verhält, sind die Armen immer nett zu ihm. Ich glaube, das hat mit dem Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur zu tun. China hat seit Jahrtausenden ein autoritäres System. Die Kultur der Diktatur ist hier stark ausgeprägt."

Chinas autoritäres System spielt tatsächlich eine wichtige Rolle. Obwohl nach außen meist unsichtbar ist der chinesische Staat sehr präsent. Peng Xizhe leitet die Abteilung für Gesellschaftsentwicklung an der Shanghaier Fudan-Universität:

"Die Kommunistische Partei, die Regierung und die Behörden sind auf der kommunalen Ebene tief verwurzelt. Die Städte sind aufgeteilt in kleine Straßeneinheiten. Jede dieser Einheiten hat ihr eigenes Nachbarschaftskomitee, das sich um lokale Belange kümmert. Die Regierung hat dadurch großen Einfluss und setzt den Bürgern Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen ist man recht frei. Man kann alles sagen, man kann schimpfen, tun was man will. Aber wenn jemand die Grenzen überschreitet, dann greift die Polizei ein oder eine andere Einheit."

Die Nachbarschaftskomitees waren noch in den Achtzigerjahren berüchtigt. Sie kannten die Anwohner genau, berichteten an die Regierung, etwa wenn jemand ungewöhnlichen Besuch bekam, ein uneheliches Kind hatte oder über ungeklärte Einkünfte verfügte. Diese Zeiten sind vorbei. Doch politische Aktivitäten sind nach wie vor nicht geduldet. Und Angehörige des Komitees gehen nachts Streife, sehen nach dem Rechten, stoppen Passanten, die ihnen verdächtig erscheinen, rufen bei Bedarf die Polizei, die mit ihren vielen Wachen nie weit ist.

China unterhält zudem einen gigantischen Sicherheitsapparat inklusive einer professionellen Geheimpolizei. Auch immer mehr Technik kommt zum Einsatz, um die Bürger zu kontrollieren. Allein im Jahr 2010 wurden landesweit 10 Millionen Überwachungskameras installiert, schreibt der britische Guardian.

Was viele Ausländer überrascht, wenn sie nach China kommen, ist die Abwesenheit von Slums in den großen Städten – anderswo sind sie die Brutstätten für Gewalt und Gesetzlosigkeit. Der Grund dafür ist, sagt der Soziologe Peng Xizhe, dass jeder Wanderarbeiter in seinem Heimatdorf, staatlich festgeschrieben, über ein Stück Land verfügt:

"Wenn Menschen in den Entwicklungsländern in die Städte ziehen, haben sie meist keine andere Wahl. In China aber ziehen die Bauern freiwillig in die Städte, weil sie ein höheres Einkommen erreichen wollen. Wenn sie auf dem Land bleiben, können sie problemlos überleben. Aber sie wollen ihren Lebensstandard verbessern. Die meisten sind zwar sehr arm. Aber sie sind nicht vollkommen verarmt."

Außerdem gehört alles Land in China dem Staat. Die Stadtbehörden würden die illegale Errichtung großflächiger Elendsviertel nicht tolerieren.
Starke Kontrolle durch den Staat plus Grundabsicherung der Ärmsten durch die Landwirtschaft – das sind zwei wichtige Gründe. Doch sie allein erklären den sozialen Frieden in Chinas Megastädten noch nicht.

Ein überdachter Lebensmittelmarkt in Shanghai, an der Nanpu-Brücke, gleich beim ehemaligen Expo-Gelände. Hier hat das Ehepaar Gao seinen Gemüsestand. Die Gaos, beide Anfang 50, sind vor gut zwei Jahrzehnten nach Shanghai gezogen. Sie stammen aus einem Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan.

"In der Stadt ist es besser als auf dem Land. In unserem Dorf können wir nur Reis und Weizen anbauen. Da arbeiten wir das ganze Jahr über, und haben trotzdem nur genug, um satt zu werden."

Herr Gao gibt hier das Credo der 200 Millionen Wanderarbeiter wider. In der Stadt lässt sich mehr Geld verdienen. Lange Zeit stimmte das, für sehr viele stimmt das auch heute noch. Doch im Falle der Gaos nur noch bedingt.

Die Lebenshaltungskosten in Shanghai, berichten die beiden, hätten sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Ihr Einkommen sei aber das gleiche geblieben. Mit ihrem Gemüse verdienen die Gaos umgerechnet rund 350 Euro im Monat. Fast die Hälfte davon fließt in die Miete ihrer heruntergekommenen Einzimmerwohnung. Weil das Geld hinten und vorne nicht mehr reicht, hat Herr Gao einen Zweitjob als Möbelpacker angenommen, immer nachmittags für ein paar Stunden. Er schläft jetzt in Schichten. Um 19 Uhr geht er ins Bett, um 23 Uhr steht er wieder auf, holt das Gemüse im Großhandel, baut nachts den Marktstand auf. Gegen sechs Uhr löst ihn seine Frau ab, die bis abends auf dem Markt bleibt. Herr Gao geht derweil zurück ins Bett, um dann für den Möbelpackerjob wieder fit zu sein.

So geht das tagein tagaus, sieben Tage die Woche. Nur zum chinesischen Neujahrsfest haben die beiden drei Tage frei. Obwohl sie so hart arbeiten, reicht das Geld nur für das Allernötigste. Zum Kranksein hätten sie weder Zeit noch Geld, sagt Frau Gao. Eine Altersrente werden sie auch keine bekommen. Angesichts des Luxus und des großen Reichtums in Shanghai hätten die Gaos nach westlichem Verständnis viele Gründe, unzufrieden zu sein, mehr zu fordern. Doch Herr Gao sagt:

"Wir kommen vom Land. Wir können uns doch nicht mit Stadtmenschen vergleichen. Die hatten immer ihre Betriebe, die sich um sie gekümmert haben. Die haben eine Sozialversicherung. Wir sind nicht gleich. Wir können nicht Menschen mit Menschen vergleichen. In meiner Heimat sagt man: Wer sich mit anderen vergleicht, stirbt vor Ärger."

Frau Gao fügt hinzu:

"Ich bin froh, wenn ich genug zu essen habe. Mehr erwarte ich nicht. Man kann doch nicht einfach los gehen und klauen. Man muss doch sein Geld mit den eigenen Händen verdienen."

Und wieder Herr Gao:

"Die Gesellschaft wird immer extremer. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Wenn einer reich ist, kann er alles machen. Wer kein Geld hat, erreicht auch nichts. So bleiben die Reichen reich und die Armen arm. Diese Unterschiede werden immer bleiben. Das kann keiner ändern."

Auch ihre vier Kinder hätten sie so erzogen, sagen die Gaos. Härter arbeiten, nicht vergleichen und jammern! Wer so denkt, der protestiert nicht, der nimmt sich nicht mit Gewalt seinen Teil, der fügt sich in die Verhältnisse, auch wenn die Gesellschaft immer ungerechter wird. Peng Xizhe:

"Chinesen begehen nicht so viele Gewalttaten, außer sie sind wirklich verzweifelt. Wir leben in der konfuzianischen Tradition. Wir sind deswegen weniger gewalttätig. Der Konfuzianismus verbietet extreme Taten, man soll immer in der Mitte bleiben. Das ist tief verwurzelt im Denken der Chinesen und in ihrem Wertesystem."

Natürlich begehen auch Chinesen Straftaten, oft auch sehr skrupellose und grausame: von Kinderhandel über illegale Organentnahme bis hin zu Lebensmittelpanschereien, die Menschen das Leben kosten können. Betrügereien sind an der Tagesordnung. Von der kaltblütigen Korruption quer durch die Gesellschaft und die Kommunistische Partei hindurch ganz zu schweigen. Doch soziale Verwahrlosung, die in roher Straßengewalt mündet – das ist in China weniger verbreitet. Dabei spielt wohl auch der traditionelle chinesische Bildungseifer eine Rolle. Die meisten chinesischen Eltern, und seien sie noch so arm, nehmen die Schulausbildung ihrer Kinder sehr ernst. Die soziale Kontrolle durch die Familie ist ebenfalls stark.

Allerdings verändert sich auch die chinesische Gesellschaft. In den kommenden Jahren könnten Gewalt und Sicherheit auch in Chinas Städten zu wichtigen Themen werden. Fragt man Shanghaier heute, berichten sie bereits von immer mehr Taschendiebstählen und wachsendem Unbehagen auf der Straße. Vor allem eine Bevölkerungsgruppe ist im Visier der Soziologen. Peng Xizhe:

"Die zweite Generation der Wanderarbeiter, also die Kinder der Zugezogenen. Sie sind heute Teenager. Ein großer Teil der Jugendkriminalität kommt aus dieser Gruppe. Es geht darum, wie man diese Menschen in die städtische Gesellschaft integrieren kann. Die erste Generation zog in die Städte, um Geld zu verdienen. Diese Leute arbeiten extrem hart und verlangen wenig. Die zweite Generation ist aber schon in den Städten geboren, hat nie auf dem Land gelebt. Man sollte sie also als Städter behandeln. Aber ihr rechtlicher Status ist noch immer der von zugewanderten Landbewohnern ohne Zugang zu den städtischen Sozialleistungen und Rechten. Diese Gruppe ist anfällig für soziale Probleme."

Doch noch ist die Nacht in Shanghai sicher. So sicher wie in wohl nur wenigen Metropolen der Welt.
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