Sibylle Berg über ihr neues Theaterstück

Geschichte verändern geht nur mit Geld und Macht

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Die Schriftstellerin Sibylle Berg bei der Verleihung des Grand Prix Literatur.
Sibylle Berg macht sich darüber Gedanken, wie stark sich unser Lebensgefühl im Laufe der Jahre verändert. © picture alliance / dpa / KEYSTONE / Georgios Kefalas
Sibylle Berg im Gespräch mit Dieter Kassel · 23.10.2020
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Das neue Theaterstück von Sibylle Berg beschäftigt sich mit der Frage, wie wir im Laufe des Lebens das Gefühl verlieren, die Welt verändern zu können. Trotzdem sei jungendlicher Zorn und der Wille zur Veränderung gut und richtig, betont die Autorin.
Dieter Kassel: Das neue Theaterstück von Sibylle Berg heißt "Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden". Es ist der Abschluss einer Reihe von Stücken, die sie für das Maxim-Gorki-Theater in Berlin geschrieben hat, dort hat dieses neue Stück auch morgen Premiere. In diesem letzten Teil der Reihe erleben wir wieder eine Frau, die vorher auch schon vorgekommen ist, sie liegt jetzt im Krankenhaus quasi auf dem Sterbebett, denkt über ihr Leben nach und stellt fest, dass all die Dinge, die sie getan hat, eigentlich völlig egal waren und gar nichts verändert haben und dass von ihr nichts bleiben wird. Das klingt für mich sehr nihilistisch, ist das ein nihilistisches Stück?
Sibylle Berg: Nein, ich glaube nicht, da wird ja einiges abverhandelt. Erst mal finde ich diesen Titel wahnsinnig hübsch, und ich hab eine große Freude, weil: Er geht ja davon aus, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, wirklich nur durch unseren Blick existiert. Jeder sieht die Welt anders, sieht Sachlagen anders, gefiltert durch seine Augen und seinen Kopf oder seine Sinnesorgane. Das ist dann eine große Kränkung, finde ich, dass man sterben wird und eigentlich, wenn man clever ist, weiß: Alles andere wird weitergehen, ohne dich, aber wie kann das sein, wenn es doch nur durch deinen Blick existiert hat?
Kassel: Ich habe mit einer Kollegin gesprochen, die das Stück schon lesen konnte und die mir gesagt hat, sie hätte diese Frau, die da spricht, von Anfang an unsympathisch gefunden, und das sei immer schlimmer geworden. Das ging mir überhaupt nicht so. Meine Empfindung war ganz merkwürdig: Ich fand das unglaublich interessant, was gesagt wird, aber ich habe von Anfang an einen Abstand zu dieser Person, dieser Stimme gehabt, den ich nicht überwinden konnte. Wie ist es bei Ihnen als Autorin, hatten Sie auch einen großen Abstand zu dieser Figur, haben Sie den vielleicht immer noch?

Nicht in Figuren gedacht, sondern in Statements

Berg: Dazu muss ich vielleicht ausholen, dass ich meistens – bei dieser Serie – ganz explizit nicht in Figuren gedacht habe, sondern in Statements, in Zeiterscheinungen. Das ist die verdichtete Geschichte eines Scheiterns: Ich finde das weder unsympathisch noch befremdlich, noch ist es weit weg von mir, sondern es ist der Versuch eines Menschen, irgendwie jung zu starten, mit dem ganzen Elan der Jugend die Welt verändern zu wollen – so fängt das ja an in Teil eins: Ich will jetzt alles anders machen.
Und wenn man ein bisschen älter ist, dann erinnert man sich vielleicht, wenn man die Klima-Jugendlichen sieht, an diesen gerechten Zorn, den sie haben, und diesen Willen, wir werden euch das jetzt zeigen, wie man es besser macht. Das ist gut und richtig, aber das ist ein Zustand, der sich sehr oft abschleift im Leben. Die wenigsten halten das so durch, weil irgendwann kommt der Beruf, der Kapitalismus, das Funktionieren-müssen.
Man wird älter, im Zweifel begreifen viele auch, es ändert ja doch nichts, meine Person ist nicht so wichtig, wie ich das immer dachte. Davon handelt das Stück ein bisschen, also von diesem Resümieren: Ich bin doch mal anders gestartet, was ist da jetzt passiert? Das ist vielleicht das, was man gar nicht so mag. Eigentlich möchte man ja gern die Idee behalten, wir können alle einen wahnsinnigen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen, was de facto meistens nicht so ist.
Szene aus dem Theaterstück "Und sicher ist mir die Welt verschwunden". Drei junge Frauen, in Bademänteln und mit Brille, tanzen und singen auf der Bühne.
Ungebrochen weitermachen oder müde werden: Szene aus dem Theaterstück "Und sicher ist mir die Welt verschwunden" am Maxim Gorki Theater in Berlin.© Ute Langkafel / Maifoto
Kassel: Ich würde zwar zustimmen, dass es de facto meistens so nicht ist, aber ist es nicht zumindest in einem gewissen Alter trotzdem richtig, daran zu glauben, dass es so ist?
Berg: Es ist unterschiedlich. Ich kenne viele Leute, die ungebrochen weitermachen, auch wenn sie wissen, es bringt wahrscheinlich nichts, oder es wird Veränderungen geben, die sie gar nicht mehr selber erleben werden. Das gibt es, aber ich kenne eben auch viele, die dann einfach aufgefressen werden mit Familie und Fünffachbelastung und einfach müde werden. Ich finde, das kann man gar nicht verurteilen, das ist einfach so.
Kassel: Das ist interessant in Bezug auf das, was ich gesagt habe: Mir ist die Frau nicht unsympathisch. Vielleicht können wir es darauf zuspitzen: Es gelingt mir nicht, sie zu verurteilen. Sie haben sicherlich mit der Figur kein Mitleid, oder?

Alles ganz anders vorgestellt

Berg: Mitleid eben nicht. Es hat ein paar – ich weiß nicht, ob die noch drinstehen –, Sätze, die mich gerührt haben. So geht es vielen einfach: Du bist dann irgendwann am Ende deines Lebens angelangt und denkst, ach Mensch, so prall war es jetzt ja doch nicht, ich hätte mir was anderes vorgestellt.
Kassel: Es ist etwas Extremes passiert in diesem Stück: Diese Frau oder eine ihrer Facetten hat ein Attentat begangen – oder auch nicht. Ich finde, da müssen wir uns gar nicht drauf festlegen, aber auf jeden Fall geht es darum: In einem Raum mit einigen Neoliberalen, die ein Seminar erleben wollen, wie sie ihr Geld vermehren können, hat diese Frau, oder möglicherweise hat sie, eine Bombe gezündet.
Dabei wurde sie auch selbst schwer verletzt, sie sagt auch selber, wie viele andere verletzt wurden, sie weiß es nicht so genau. Jetzt können wir uns ganz schnell darüber einigen, dass man so etwas natürlich nicht macht, das ist ein schlimmes Verbrechen, aber was ich interessant finde: Sie sagt ja auch, was sie eigentlich gemerkt hat bei diesem Attentat, ist, selbst das verändert nichts – ein paar Tage Schlagzeilen, dann ist auch das wieder vorbei. Da bin ich wieder bei meiner Vorstellung vom Nihilismus: Das heißt ja, es ist ihr wirklich alles egal.
Berg: Nein, das ist falsch. Ich bin beim Schreiben davon ausgegangen, dass keiner zu Schaden kommt, weil ich bin absolut nicht für blutige Einsätze, aber es ist schon so - wenn du dir den Verlauf des Weltgeschehens oder die Geschichte anguckst - dann haben kleine Einzelmaßnahmen selten den Lauf der Geschichte groß beeinflusst.
Wenn du jetzt überlegst, wie viel Elend Terrorattentate über Familien und Menschen gebracht haben und was davon geblieben ist, was das wirklich bewirkt hat, außer Elend zu bringen. Das geht auch in diese seltsame Selbstüberschätzung: Ich werde jetzt die Welt verändern oder beeinflussen. Heutzutage geht das nur, indem du in Machtpositionen bist, oder sehr, sehr viel Geld hast. Oder wenn du Lenin bist und eine Revolution machst.
Kassel: Es gibt eine Stelle an dem Stück, wir müssen vielleicht noch mal klarstellen, dass wir beide hier über ein Stück reden, dass wir beide kennen, bei Ihnen relativ leicht zu erklären, Sie haben es geschrieben, ich hab die Ursprungsform gelesen. Wir wissen aber beide nicht sicher, was davon - zum Teil wissen Sie es, zum Teil auch nicht - morgen Katja Riemann wirklich sagen wird in der Premiere.

Angewidert von der Triage-Diskussion

Berg: Es sagt ja nicht Katja Riemann allein, sie ist Part von vier Schauspielerinnen. Das ist auch noch wichtig zu wissen, dass es nicht ein Soloabend für Katja Riemann ist und vielleicht auch gar nicht als Katja Riemann zu erkennen ist. Bei dieser Serie waren das immer vier junge Frauen oder jüngere Frauen, und einmal kamen dann auch noch vier Männer dazu, einmal kamen vier Kinder dazu, das ist kein Soloabend.
Kassel: Es gibt eine kleine Stelle, wo ich glaube: Hätte ich das Stück ohne Pandemie gelesen, wäre das möglicherweise die einzige Stelle gewesen, wo ich gelacht hätte, habe ich deshalb aber nicht. Das ist eine Stelle, da heißt es sinngemäß - wie gesagt, die Frau liegt im Krankenhaus und ist schwer krank: Man würde mich abschalten, wenn auf der Nachbarliege ein aufstrebender Portfoliomanager liegt. Ich selber habe das Stück natürlich gelesen unter dem Eindruck der Pandemie, Sie haben es nicht unter diesem Eindruck geschrieben, aber glauben Sie, wenn Sie es jetzt oder vor ein paar Monaten geschrieben hätten, wäre da etwas wesentlich anders gewesen in Ihrem Text?
Berg: Ich glaube nicht, das ist ja irgendwie wahnsinnig, wie voraussehend ich bin, oder? Es gab immer die Diskussion, oder sie kommt jetzt auch wieder: Triage. Kann man alte Menschen ausschalten, haben die überhaupt noch einen Sinn, ist ein Leben, was 80-jährig ist, wertvoller als – nein, dann lassen wir doch diesen jungen Menschen hier leben. Eine absolute Selektion fand da statt, die mich sehr, sehr angewidert hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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