Shortlist Deutscher Buchpreis

Gesellschaftliche Relevanz und eine beeindruckende Debütantin

08:15 Minuten
Die sechs nominierten Buchtitel stehen aufgereiht nebeneinander vor einer orangenen Wand.
Bücher von vier Frauen und zwei Männern sind für den Deutschen Buchpreis nominiert, der in Frankfurt am Main zum Auftakt der Buchmesse vergeben wird. © © vntr.media
Von Wiebke Porombka · 15.09.2020
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Alle sechs Romane haben gesellschaftliche Relevanz, sagt unsere Literaturkritikerin Wiebke Porombka zur Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Und doch unterscheiden sich die Sujets wie auch die Erzählweisen dieser Bestenauswahl gewaltig.
Schon mit der Longlist des Deutschen Buchpreises konnte man zufrieden sein, weil sie ein breites Spektrum gegenwärtigen Erzählens abbildete. Erfreulicherweise ist es der Jury auch mit den sechs für die Shortlist nominierten Titeln gelungen, diese Vielstimmigkeit fortzusetzen.
Diese Shortlist ist weder thematisch noch ästhetisch programmatisch. Die Sujets sind so heterogen wie die Erzählweisen. Dennoch haben die sechs Romane eines gemeinsam: Sie haben eine gesellschaftspolitische Relevanz, für die die Autorinnen und Autoren jeweils eigene sprachliche, literarische Zugänge gefunden haben.
Mit Deniz Ohde findet sich eine beeindruckende Debütantin auf der Shortlist. "Streulicht" ist ein Roman über das Fortwirken der von uns längst überwunden geglaubten Klassengesellschaft. Nüchtern, fast distanziert beschreibt die 1988 geborene Autorin die Rückkehr einer jungen Frau in die Industriestadt, in der sie in einer von Alkohol und Gewalt dominierten Arbeiterfamilie aufgewachsen ist. Deniz Ohde erinnert damit an französische Autoren wie Annie Ernaux, Eduard Louis oder Didier Eribon, die in den vergangenen Jahren in ihren Büchern die eigene soziale Bedingtheit reflektiert haben.
Das Überwinden eigener Bedingtheiten kann man in Christine Wunnickes fabelhaft lustigem Roman "Die Dame mit der bemalten Hand" genauso lernen wie in Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik". Letzterer, mehr Essay als klassischer Roman, setzt sich aus Fragmenten, aus Literatur- und Filmzitaten, aus Erinnerungen und Notizen zusammen. Indem Elmiger ihre souveräne Autorinnenposition aufgibt, versucht sie – assoziativ oder einer Logik des Traums folgend – Erkenntnis zu generieren. Kolonialismus und Kapitalismus sind die Themen, die Elmiger dabei vor allem interessieren.

Komische sprachliche Verwirrung

Was Elmiger macht – die Wissensmuster, die wir wie eine Brille mit uns tragen und die unsere Wahrnehmung bestimmen, abzulegen – davon erzählt auf ganz andere Weise auch Christine Wunnicke in "Die Dame mit der bemalten Hand". Wenn sie im 18. Jahrhundert auf einer Insel vor Indiens Küste einen deutschen Mathematiker und einen persischen Astronomen aufeinandertreffen lässt, dann kommt es nicht nur zu heillos komischer sprachlicher Verwirrung, sondern auch zu Einsichten, die uns heute noch gut zu Gesicht stehen würden. Als die beiden Männer gemeinsam auf die Sterne schauen und feststellen, dass sie dasselbe sehen, aber es anders benennen, stellt der Mathematiker fest, wie erbärmlich das sei, sich deshalb – wegen unterschiedlicher Welterklärungsmuster – die Köpfe einzuschlagen.
Als Favoriten auf dieser Liste dürften auf den ersten Blick die etablierten Autoren Bov Bjerg mit "Serpentinen" und Thomas Hettche mit "Herzfaden" gelten. Zwei Romane, die auf je andere Weise die Fragen stellen: Wie lösen wir uns von unseren Vätern? Wie kann das Erzählen neuer Geschichten beginnen?
Auch wenn beide Romane schon einige Beachtung erfahren haben, wäre ihnen eine Auszeichnung wie der Deutsche Buchpreis zu gönnen. Benötigen, im Sinne der Aufmerksamkeitsgenese, werden sie ihn nicht.
Und wer weiß, vielleicht geht der Buchpreis am 12. Oktober ja auch an Anne Weber, die mit "Annette, ein Heldinnenepos" gekonnt poetologische Selbstermächtigung betreibt. Weber nimmt die traditionell männlich besetzte Gattung des Epos, um die Geschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu erzählen – in Versen. Eine Entscheidung, die angesichts der starken Konkurrenz eine ziemliche Überraschung wäre.
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