"Shakespeare hat seine Stücke selbst verfasst"

Shakespeares Totenmaske
Shakespeares Totenmaske © AP
Tobias Döring im Gespräch mit Nana Brink · 13.10.2011
In seinem neuen Film "Anonymous" illustriert der Regisseur Roland Emmerich die These, William Shakespeare sei in Wirklichkeit Edward de Vere, Earl of Oxford gewesen. Dem widerspricht der Anglist Tobias Döring: Nach dem Zeugnis seiner Zeitgenossen habe er seine Werke selbst geschrieben. Gleichwohl sei Emmerichs Film absolut sehenswert, weil er eine Fantasie über Shakespeare opulent ausmalt.
Nana Brink: Das war Edward historisch gesehen, Edward de Vere, Earl of Oxford und – so gehen die Theorien – der wahre Shakespeare. Roland Emmerich hat in seinem Film "Anonymous" daraus ein sagenhaftes Stück Kino gemacht, und eines ist schon mal klar: Der Film hat alles, was ein Stück von William Shakespeare auch hätte. Es geht um Könige, Königinnen, Prinzen, illegitime Kinder, Inzest, Machtliebe, Punktum großes Kino. Am Freitag wird Emmerichs "Anonymous" auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt, der Film, an dem der Hollywoodregisseur aus Sindelfingen acht Jahre lang gearbeitet hat und der der Frage nachgeht, die zu den berühmtesten in der Literaturgeschichte gehört: Hat er oder hat er nicht?

Das ist hier die Frage: Hat der Mann aus Stratford, Stratford-upon-Avon tatsächlich die Werke selbst geschrieben oder nicht? Am Telefon ist jetzt Tobias Döring, Präsident der deutschen Shakespeare-Gesellschaft – schönen guten Morgen, Herr Döring!

Tobias Döring: Ja, schönen guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Wir könnten ja eigentlich noch einen Schritt weitergehen, wenn Sie nicht gerade der Präsident der Shakespeare-Gesellschaft wären und wahrscheinlich sich jetzt totlachen würden: Gab es William Shakespeare wirklich?

Döring: Ja, den gab es wirklich, und ich muss sagen, ich bin stolz darauf, der Präsident der einzigen Gesellschaft zu sein, literarischen Gesellschaft, deren Autor so umstritten ist, denn das ist ja Literatur, die die Wirklichkeit bestreitet und etwas anderes erfindet, das ist Theater, was Masken und Schein und Spiel errichtet. Und deswegen hätte Shakespeare an diesem Spiel bestimmt seinen allergrößten Spaß.

Brink: Sie haben den Film ja auch schon gesehen. Er ist kein Dokumentarfilm, das sei hier ausdrücklich angemerkt, sondern eine opulente Tragödie. Ja, er war es ja nicht, sondern der behauptet ja, ein gewisser Edward de Vere war es.

Döring: Ja, ich finde den Film sehr sehenswert, eben weil er diese Oxford-Fantasie endlich mal dahin bringt, wo sie hingehört, nämlich ins Kino, in die Kinounterhaltung. Das Kino ist ja der Ort der Fiktion, und diese Fiktion wird hier ausgemalt. Und in dem wunderbaren Ausschnitt, den wir eben gehört haben, kommt es ja schon ganz klar raus, dass die Idee, was sozusagen ein Autor ist oder warum ein Autor schreibt, in dem Film ganz opulent inszeniert wird: das Getriebene, das Wahnsinnige, er ist wie Nero, der die Geige spielt, während Rom brennt, und die Frau sagt, ach, musst du denn immer schreiben.

Das sind Vorstellungen des Genies, des Autors als Genie, wie wir sie aus der Romantik kennen, also so aus der Zeit um 1800. Das ist eine Vorstellung, die natürlich historisch sehr mächtig ist und die auch mit Shakespeare immer sehr verbunden worden ist, aber es hat mit dem historischen Shakespeare, mit dem wirklichen Autor dieser Stücke um 1600, also lange Zeit vorher, nichts zu tun.

Brink: Warum gibt es denn überhaupt diese Verschwörungstheorien – Sie nannten ja die Oxford-Theorie?

Döring: Ja, die Oxford-Theorie ist eine von ungefähr, na so 60, 70 sind es wohl mittlerweile, angenommene Identitäten, es wird hier behauptet, es gäbe hinter diesem Strohmann, hinter diesem Decknamen Shakespeare andere Autoren, und da sind also jahrelang immer wieder neue Namen ins Spiel gekommen – derzeit ist es eben diese Oxford-Idee, die es so seit 90 Jahren gibt, besonders populär.

Die gibt es meiner Ansicht nach genau aus dem Grund, den wir gerade schon ansprachen, weil eben Shakespeare so vergöttert wurde, weil er so zum Genie erklärt wurde und weil er für den weisesten, wichtigsten, gebildetsten, universellsten Menschen überhaupt gehalten wurde, den es gab. Deswegen musste ihm auch ein großer, hochgestellter, nobler, weit gereister, gebildeter Aristokrat unterstellt werden, und es konnte einfach nicht akzeptiert werden, dass das ein recht normaler Bildungs- und Besitzbürger so aus der mittelenglischen Provinz war, der war auf der Grammar School, aber nicht auf der Universität, der war im Theater, der hat sich sozusagen sein Geld und seinen Wohlstand redlich verdient und hat sich auch auf seinen Wohlstand irgendwann zurückgezogen, eine sehr bürgerliche Existenz.

Und das passt nicht zu diesem Geniebild, was wir eben gerade auch in diesem Film unglaublich herrlich ausgemalt finden. Und deswegen werden ihm diese anderen Fantasien, diese andere Identitäten unterstellt und ausgemalt.

Brink: Ja, bleibt aber doch die Frage, hat er oder hat er nicht? Hat er wirklich alle seine Werke selbst geschrieben?

Döring: Also er hat nicht alle Werke alleine geschrieben, das wissen wir auch sehr genau, er hat sehr viel in Zusammenarbeit geschrieben, gerade zum Beginn und zum Ende seiner Karriere. Das passt übrigens auch nicht zu dieser Idee des einsamen Genies, was da in der Studierstube vor sich hin schreibt, während die Gattin quengelt und die Tochter und alle irgendwie ihn bedrängen.

Shakespeare hat nach dem ausdrücklichen Zeugnis zahlreicher seiner Zeitgenossen – wir haben sehr viele Belege, die das in der Zeit als ganz selbstverständlich voraussetzen und zeigen – hat nach dem Urteil der Zeitgenossen seine Stücke selbst verfasst. Da wird viel drauf angespielt, da wird viel auch Bewunderndes wie Schmähendes, Kritik wie Lob und so weiter daran geübt. Viel wurde ja auch in den Druck gegeben, und in der Druckerszene, in der Bücherszene des frühneuzeitlichen London war Shakespeare ein sehr etablierter Mann. Also hätte es irgendjemanden gegeben, den Earl oder sonst jemanden, der sich verstecken wollte und Anonymität suchte, Shakespeare wäre eigentlich die genau falscheste Wahl gewesen, weil es ein bekannter Schauspieler war, der als Autor selber einen Namen hatte, und sich hinter dem zu verstecken, hätte die ganze Verschwörung sehr schnell zum Auffliegen gebracht.

Brink: Also man könnte so sagen, er war ein Promi seiner Zeit.

Döring: Ja, das muss man sagen. Also die frühneuzeitliche Metropole London hatte ungefähr 200.000 Einwohner, das ist recht überschaubar. Es war die größte Stadt Europas, aber es sind so viel, wie bei einem durchschnittlichen Tag hier auf dem Münchener Oktoberfest sich tummeln, also es ist doch eine überschaubare Größe. Und in dem Rahmen, darf ich sagen, war er ein Promi.

Und wenn sich jemand anonym halten möchte, dann hätte er einfach seine Stücke anonym gelassen, das war eigentlich der Normalzustand. Viele Stücke, die wir aus der Zeit kennen, tragen überhaupt keinen Namen oder lassen sich überhaupt nicht irgendeinem Autor zuordnen. Das hätte auch dieser Earl wunderbar machen können, ohne dass er sich damit irgendwelchen Verschwörungen oder Deckmänteln oder sonst irgendetwas begeben hätte.

Brink: Das spricht ja alles dafür, dass wir sehr viel über ihn wissen.

Döring: Wir wissen über Shakespeare eine ganze Menge mehr als über seine zeitgenössischen Kollegen, das muss man immer wieder sagen, nur ist es so, dass wir die Sachen, die uns eigentlich interessieren, nicht von ihm wissen. Wir haben zum Beispiel keine Tagebücher oder keine Briefe oder Notizhefte oder irgendetwas, wo man sieht, wie er an dem Hamlet gefeilt hat und wie er sich seine Späßchen ausgedacht hat, wie er die Stücke produzierte.

Was wir von ihm haben, sind sehr viele zeitgenössische Dokumente, die aber häufig eben das bürgerliche Leben betreffen – Handel, Gerichtsauseinandersetzungen, Grundstückskäufe und solche Dinge –, und das befriedigt natürlich irgendwie nicht. Wenn man ein Genie will, dann will man eben den großen Weltenlenker, der über den Dingen schwebt und die Welt im Blick hält und gereist und was weiß ich, und das muss dann eben fantasiert werden mit solchen anderen angenommenen Identitäten, wie sie der Film herrlich, würde ich sagen, wunderbar, auch also wunderbar witzig, ausmalt.

Brink: Also Sie können den Film auch als Shakespeare-Fachmann genießen?

Döring: Den Film genieße ich umso mehr, als er uns eben genau das zeigt, was nicht der Fall ist, deswegen gehen wir ja ins Kino. Was schon wirklich die Wirklichkeit ist, ich meine, das sehen wir jeden Tag, und der Film führt ja auch seine eigene Geschichte damit ein, dass er sagt, wir erzählen uns jetzt hier mal eine dunkle Geschichte über Shakespeare. Und natürlich erzählt uns das Kino die viel spannenderen Geschichten, wenn sie ausgedacht sind und wenn sie der Fiktion entspringen.

Brink: Tobias Döring, der Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Schönen Dank, Herr Döring, für das Gespräch!

Döring: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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