Shahriar Mandanipur: "Augenstern"

Auf der Suche nach dem verlorenen Arm

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Buchcover von Shahriar Mandanipurs "Augenstern".
In "Augenstern" erzählt Shahriar Mandanipur eine Liebesgeschichte angesiedelt im modernen Iran. © Unionsverlag
Von Carsten Hueck · 17.03.2020
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Erst Sex, Drugs und Rock'n'Roll in Teheran, dann Revolution, Sittenwächter und Krieg. Der Playboy Amir kehrt als traumatisierter Kriegsveteran ins Elternhaus zurück. Dann macht er sich auf die Suche: nach einem abgerissenen Arm und seiner großen Liebe.
Der iranische Schriftsteller Shahriar Mandanipur, 1957 geboren, hat den Sturz des Schah-Regimes erlebt, die Gründung der Islamischen Republik und den iranisch-irakischen Krieg, an dem er selbst als Soldat teilnahm. "Augenstern", Mandanipurs neuer Roman, führt zurück in diese Zeiten.
Amir, ein junger Mann aus wohlhabendem Haus, genießt das Leben in Teheran lässig und in vollen Zügen. Er fährt einen Alfa Romeo, trägt die Haare lang, schleppt häufig wechselnde Geliebte ab. Sex und Alkohol, Clubs und Hedonismus bestimmen sein Leben.
Kurz vor Ausbruch der Revolution 1979 verliebt sich Amir zum ersten Mal ernsthaft in eine junge Frau. Ausgerechnet sie verläßt ihn und begeht bald darauf Selbstmord.
Amirs Lebensstil verändert sich durch dieses Ereignis sowie die gleichzeitig einsetzenden gesellschaftlichen Umwälzungen nachhaltig. Der religiöse Vater paktiert mit den Mullahs, Amir wird ausgepeitscht, sagt sich von der Familie los und verschwindet spurlos. Das erfährt man in einzelnen Episoden retrospektiv, denn die nicht linear konstruierte Handlung des Romans setzt erst etliche Jahre später ein.

Zwei Engel als Erzähler

Erzähler sind die in den Hadithen erwähnten "Edlen Schreiber" – zwei Engel, rechts und links auf den Schultern des Menschen sitzend, die bis zum Tag seines Todes die guten und schlechten Taten des Betroffenen notieren. Kursive Passagen geben Amirs eigene Äußerungen und Gedanken wieder. Diese verschiedenen Stimmen bilden die Vermischung von Gut und Böse in seinem Leben, aber auch die Fragmentierung seines Geistes ab.
Zu Beginn des Romans ist Amir aus einem Heim für psychisch Gestörte in sein Elternhaus gebracht worden. Fünf Jahre hatte er dort als Kriegsveteran zugebracht. Beim Beschuss seiner Stellung im Grenzgebiet zum Irak war ihm der linke Arm abgerissen und sein Gedächtnis zerstört worden.

Fantasien, Erinnerungen, Wahnvorstellungen

Immer noch leidet er unter posttraumatischen Störungen. Das Zerbrechen von Holz erinnert ihn an splitternde Knochen, der Biss in einen Apfel an das Eindringen von Granatsplittern in die Haut. Außen-und Innenwelt kann er nicht voneinander trennen.
Amir lebt in Fantasien, Erinnerungen, Wahnvorstellungen. Mithilfe seiner Schwester versucht er nun sein Leben neu zu ordnen, seine Vergangenheit zu rekonstruieren.
Sicherheit soll ihm ein Verlobungsring geben, den er glaubt, an der linken Hand getragen zu haben. Denn das hieße, dass er einer Frau nah war, die ihn liebte. Um den Ring zu finden, macht er sich auf die Suche nach seinem Arm, der im ehemaligen Kriegsgebiet vor vielen Jahren verscharrt wurde.

Kriegsheimkehrer- und Liebesgeschichte zugleich

Mandanipur erzählt nicht nur eine zutiefst verstörende Kriegheimkehrergeschichte, von der Grausamkeit des Tötens, der Angst und dem Wahnsinn, sondern auch eine große Liebesgeschichte. Eros und Thanatos sind in diesem Roman kaum voneinander zu trennen. Sexuelle Obsessionen schildert der Autor kunstvoll lyrisch oder zotig, immer sinnlich - wie auch Szenen des Krieges oder die Erscheinungen der Natur.
Mandanipur hat ein großes Buch verfasst, reich an Zynismus und Schmerz, Hoffnung und Leidenschaft. Einprägsame Bilder und Allegorien, virtuos der Wechsel unterschiedlicher Sprachebenen. Iranische Geschichte, persische Literatur, existenzielle Lust und von Menschen produziertes Leid finden in einer Totalität zusammen, die einen atemlos und demütig macht.

Shahriar Mandanipur: Augenstern
Aus dem Englischen von Regina Schneider
Zürich, Unionsverlag, 2020
448 Seiten, 24,00 Euro

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