Serie zu 200 Jahre "Italienische Reise"

Goethe und die Bausünden Italiens

Sprengung der Bauruine Alimuri Vico Equense am 30.11.2014 im italienischen Neapel
Sprengung der Bauruine Alimuri Vico Equense am 30.11.2014 im italienischen Neapel © imago stock&people
Von Jan-Christoph Kitzler · 07.06.2016
Johann Wolfgang Goethe würde heute - 200 Jahre, nachdem der erste Band seiner "Italienischen Reise" erschien - in Italien vieles nicht mehr wieder erkennen, meint der italienische Architekt Aldo Loris Rossi im zweiten Teil unserer Serie. Vor allem die Bauruinen seien ein Problem.
Als Goethe nach Italien reiste, gab es auch Krisen in Europa. Aber das hielt die wohlhabenden Schichten der Gesellschaft nicht davon ab, auf Grand Tour zu gehen, den Süden zu erleben – und auch sich selbst. Schon die Landschaft begeisterte die Teutonen. Goethe selbst schrieb in seinen Reisenotizen und Briefen immer wieder von dieser Faszination.
Landschaft, die bezaubert, und die auch heutige Italien-Reisende begeistert: das Blau der Riviera, das Zypressenidyll in der Toskana, die wilden Berge der Abruzzen. Viele kritisieren, dass Italien nicht behutsam mit dieser Landschaft umgeht.
Zu ihnen gehört Aldo Loris Rossi. Er lebt in Neapel. Architekturkennern ist er ein Begriff – er war zum Beispiel in den 70er-Jahren mit seinem Modell der vertikalen Stadt auf der Documenta in Kassel. Jahrelang hat er in Neapel gelehrt. Seit 30 Jahren wohnt und arbeitet er in einem spektakulären Atelier mit Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv. Loris Rossi ist alles andere als ein Romantiker – aber wie Italien mit seiner Landschaft umgeht, ist für ihn ein Skandal:
"In den letzten 70 Jahren, ab Kriegsende, wurde in Italien gebaut wie nie zuvor in der Geschichte. Erschreckend. 1945 gab es in Italien 35 Millionen Wohnungen und Wohnhäuser. Heute gibt es 120 Millionen. Der Wohnungsbestand hat sich also praktisch vervierfacht.

Ökomonster in Ferrara

Die Folgen kann man rund um die großen Städte besichtigen. Die Italiener haben ein Wort dafür gefunden: "Cementificazione" – die Bedeckung großer Flächen mit Zement.
Was das bedeutet, sieht man überall in Italien: zum Beispiel in Ferrara. Goethe reiste hier auch durch, hatte aber keine rechte Lust auf die Stadt. Heute gehört sie zum Weltkulturerbe. Dabei war dieser Status vor kurzem in Gefahr – und das liegt auch an den Bausünden. Paola Faggioli von der Umweltschutzorganisation "Legambiente" verweist auf den so genannten Spiegelpalast. 1985 war Baubeginn, da war Paola gerade sechs Jahre alt. Hinter der schwarz spiegelnden Fassade sollten ein Hotel entstehen, ein Kongresszentrum, Wohnungen. Doch dann war einer der Besitzer in eine Mafia-Geschichte verstrickt, der große Gebäudekomplex wurde vom Gericht beschlagnahmt – und rottet seitdem vor sich hin. In Italien haben sie auch dafür ein Wort: Ecomostro.
"Der Spiegelpalast ist ein Ökomonster. Er ist eine große Belastung für die Landschaft und die Stadt. Er steht einfach da, ohne Gewinn zu bringen, er verursacht nur Unannehmlichkeiten, soziale, wirtschaftliche. Das ist schrecklich anzusehen."

"Den Architekturmüll der Nachkriegszeit abreißen!"

Dass es so viele Ecomostri im Land gibt, ist für Paola Faggioli vor allem ein Problem der Verwaltung in vielen Regionen sei sie unfähig oder unwillig:
Wenn Aldo Loris Rossi solche Geschichten hört, kann er mit seinen 83 Jahren immer noch ziemlich energisch werden. Die massenhaft hochgezogenen Bauten zerstören nicht nur Landschaft und historisches Erbe, sondern sind auch eine Gefahr. Von seinem Fenster aus kann man viele Häuser sehen, die am Hang des Vesuvs entstanden sind - in einem gefährdeten Gebiet, wo eigentlich kein Gebäude stehen dürfte.
"Man müsste den gesamten Architekturmüll der Nachkriegszeit abreißen, der nicht erdbebensicher ist. Retten wir die hochwertigen Bauten, die hochwertige Architektur! Wenn Goethe heute nach Neapel käme, würde er es nicht mehr wiedererkennen! Im 18. Jahrhundert, als Goethe Neapel besuchte, hatte die Stadt 400.000 Einwohner, heute haben wir eine Million Einwohner und drei Millionen Wohnungen."
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