Serie "Tagebuch aus Aleppo" - Teil 3

"Ich habe Angst vor den Toten, aber nicht vor dem Tod"

Zerstörte Gebäude in Aleppo am 29. Oktober 2015
Zerstörte Gebäude in Aleppo am 29. Oktober 2015 © imago stock & people
Von Julia Tieke · 21.12.2015
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fängt persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei junge Menschen aus Aleppo erzählen von ihrem Alltag im inzwischen über drei Jahre anhaltenden Krieg.
Sobhi: "Die größte Angst – wir haben immer Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren."
Fajer: "Einmal war mein Bruder entführt worden und ich hatte vier Tage lang Angst, dass er stirbt. Wir hatten nicht genug Geld, um ihn frei zu kaufen. Das hat mir am meisten Angst gemacht. Ansonsten habe ich keine Angst."
In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep, in der Südtürkei... - Was ist Angst? Wie sieht sie aus, fühlt sie sich an, wie schmeckt sie? Was sind Deine größten Ängste? Bist Du ängstlicher als früher oder umgekehrt? - ...dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit.
Sobhi: "Für mich hat Angst keine Form, und ich habe nicht das Gefühl, sie irgendwie ausdrücken zu können. Vor der Krise was Angst für mich nur etwas Vages, und jetzt ist sie in mein Leben als etwas Neues eingedrungen. Unser ganzes Leben ist Angst. Angst, dass wir heute nicht überleben. Angst, dass es morgen schlimmer wird."
Mahmoud: "Der Großteil der Leute, die mich umgeben, lassen mich meine Angst vergessen. Wenn ich bei meiner Familie, bei Freunden bin, habe ich keine Angst. Keine Angst vor Raketen, Granaten, Flugzeugen oder vor dem Tod – nur davor, gefangen genommen zu werden. Wenn ich gefangen genommen werde, passiert mir Schlimmeres als der Tod."
Fajer: "Wie klingt Angst? Für mich klingt sie wie das Geräusch, wenn man mit einer Hand langsam über Holz fährt. Ihr Geruch? Wie der Geruch von Sperma. Ihre Form? Amputierte Füße."
Mahmoud: "Riecht wie Kanalisation, ganz klar. Wenn sie mich festnehmen, weiß keiner mehr ,wo ich bin. Was mein Schicksal ist. Wenn jemand frei gelassen wird, dann können wir seinen Kopf nicht mehr von seinen Füßen unterscheiden. Das ist meine einzige Angst, bis heute, festgenommen zu werden. Darum benutze ich auch immer ein Pseudonym."
Sobhi: "Meine größte Angst, vor und in der Krise, ist, meine Mutter zu verlieren. Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben. Sie hat mich aufgezogen und mir alles beigebracht, mir beigebracht ehrlich zu sein und vor nichts Angst zu haben."
Mahmoud: "Früher hatten wir vor nichts Angst. Wir sind die ganze Zeit ausgegangen, haben gearbeitet, Feiertage verbracht. Donnerstagabend war niemand zu Hause. Barbecues, Singen, mit der Frau ausgehen, mit den Kindern spielen. Wir waren zufrieden. Durch die Krise bin ich Allah näher gekommen. Du weißt nicht, wann dich eine Granate töten wird. Ich habe keine Angst vor dem Tod, weil Allah geschrieben hat, dass jeder sterben wird. Ich habe Angst vor den Toten, aber keine Angst vor dem Tod."
Fajer: "Für mich ist die Angst zu einem Vergnügen geworden. Unser Leben in Syrien ist ein Vergnügen, du lebst einfach in den Tag hinein. Das geht bis dahin, dass Leute hier Kriegs-Tourismus machen. Für mich ist der Krieg Realität. Natürlich belügen wir uns, um zu leben, das ist tragisch. Was uns glücklich macht, ist zum Beispiel, wenn eine Rakete runterkommt und uns nicht trifft. Dann sind wir außer uns vor Freude, dass uns nichts passiert ist. Ich bin heute nicht gestorben, das ist ein Vergnügen. Oder wenn wir zum Beispiel zwei Tage ohne Wasser waren und es dann wieder da ist – wir freuen uns. Oder wenn der Strom nach einer Woche wieder da ist und wir unsere Wäsche waschen können – eine Freude. Wenn du nach zwei Wochen das Wasser aufheizen und ein Bad nehmen kannst – natürlich ist das eine Freude. Sauberes Wasser trinken – eine Freude."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen
Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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