Serie "Mein Freund im Todestrakt" - Teil 4

Ungleiche Freunde

06:06 Minuten
Ein Insasse läuft hinter Gitterstäben an Zellen vorbei.
Im Todestrakt sterben mehr Menschen eines natürlichen Todes als durch Hinrichtung. © picture alliance/AP/Eric Risberg
Von Arndt Peltner · 02.04.2020
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Arndt und Reno telefonieren jahrelang jede Woche, einmal im Monat besucht Arndt Reno in San Quentin. Beide reden wenig über das, was Reno getan haben soll und wenig über den Tod. Reno aber hat einen Wunsch: nicht allein zu sterben.
"Ich habe nicht viel mit anderen Gefangenen zu tun. Wir können uns von Zelle zu Zelle unterhalten, auch noch mit einigen, die ein paar Zellen weiter untergebracht sind. Und man geht auf den Hof und redet dort."
Reno ruft mich jede Woche an. Die Zeit, die er sprechen darf, ist begrenzt. 15 Minuten. Meistens gibt es nicht viel Neues zu erzählen. Jeder Tag gleicht dem anderen. Frühstück um halb fünf, Hofgang um sieben, Lunchpaket um elf, Abendessen um halb fünf. Dazwischen fernsehen, malen, schlafen. Und das seit 40 Jahren.

Keine Beweise, keine Spuren

Über den Grund seiner Inhaftierung sprechen wir fast nie. Reno sagt, er sei unschuldig. Vor vielen Jahren habe ich in den alten Akten recherchiert. Es gibt keine klaren Beweise, keine Spuren.
Reno hat aber den Mord an drei Jugendlichen irgendwann gestanden. Er sagt, er hatte keine Wahl, er wurde zu der Aussage gezwungen. Wer die Methoden der Polizei in den 70er-Jahren in Los Angeles kennt, der weiß, dass das nicht völlig abwegig ist. Im Laufe der Jahre wird die Frage nach Schuld oder Unschuld für mich immer unwichtiger.

Schockierendes Procedere

Ungefähr einmal im Monat fahre ich nach San Quentin und besuche Reno. Früher konnte man im Besucherraum umhergehen. Seit einigen Jahren aber wird man mit dem Gefangenen in einen etwa zwei Quadratmeter engen Käfig eingesperrt.
Das Prozedere: gelinde gesagt "gewöhnungsbedürftig" und für all jene, die zum ersten Mal jemanden auf Death Row besuchen, schockierend.

Anti-Depressiva im Todestrakt

Für mich sind meine Besuche in San Quentin, die anfangs noch so aufregend und neu waren, mittlerweile Routine. Ich kenne den Ablauf: Und dennoch atme ich jedes Mal tief durch, wenn die Stahltür vor mir aufgeht und ich wieder mit Blick auf die San Francisco Bay ins Freie treten kann.
Reno ist fast 75 Jahre alt, er sitzt mittlerweile im Rollstuhl. Die Knie wollen nicht mehr so. Er hat Diabetes, die Gelenke tun weh, er hatte einen Herzinfarkt. Reno bekommt Unmengen an Tabletten, darunter auch Anti-Depressiva. Als er mir das erzählt, kann ich nicht anders und muss lachen. Depressiv im Vorhof des Todes. Er lacht mit.
Ich bin für Reno sein Kontakt, sein Draht zur Welt nach draußen. Er hört mir aufmerksam zu, wenn ich von meiner Arbeit, von meinen Reisen in teils gefährliche Gegenden, wie Somalia, erzähle. Wir reden über Politik, er verfolgt alles im Fernsehen, fragt nach, wenn er etwas nicht richtig versteht. Er will wissen, was ich von Leuten wie Arnold Schwarzenegger und Donald Trump halte, an was ich journalistisch gerade arbeite.

Der Tod ist selten Gesprächsthema

Für Reno sind unsere Verabredungen noch immer etwas Besonders. Wenn er weiß, dass ich komme, rasiert er sich. Und freut sich auf das Essen, das ich ihm aus dem Automaten ziehe. Burger und Cola, morgens um acht.
"Automatenessen ist umso vieles besser, als das, was wir hier drinnen bekommen. Auch das abgepackte Zeug ist um einiges besser, als das, was sie uns geben. Es ist richtig schlecht geworden und dann kommt noch hinzu, dass das Idioten in der Küche sind, die meinen, alles müsse total scharf gewürzt werden. Aber hier gibt es Leute, die das nicht mögen."
In all den Jahren, die ich Reno besuche, werde ich immer wieder gefragt, über was man mit jemandem spricht, der zum Tode verurteilt ist. Die Antwort: über alles. Aber nur ganz, ganz selten über den Tod.
"Nein, daran denke ich kaum. Erst seit ich meinen ersten Herzinfarkt hatte. Wir sind hier im Todestrakt, aber über den Tod reden wir hier kaum. Wenn es wirklich so weit kommen sollte, werde ich dem Staat dieses Schauspiel nicht gönnen."
Ich weiß, was er damit meint – Suizid. Es klingt verrückt: seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1977 starben im Todestrakt von San Quentin mehr Männer durch Selbstmord oder eines natürlichen Todes als in der Hinrichtungskammer.

"Willst Du bei meiner Hinrichtung dabei sein?"

Manchmal, wenn seine Schmerzen zu stark sind, reden wir auch über den Tod. Und dann, eines Tages, fragt er mich: "Willst du bei meiner Hinrichtung dabei sein?" Ich bin erstmal sprachlos. Dann reiße ich mich zusammen und sage: "Yes, if you want me to, I‘ll be there."
Es ist eine seltsame Beziehung zwischen Reno und mir. Wir wären uns draußen wahrscheinlich niemals begegnet, hätten uns nie kennengelernt. Und hier drinnen ging er mir anfangs oft auf die Nerven. Er wollte ständig, dass ich dies oder das für ihn tue, und zwar sofort. Ich sollte öfter zu Besuch kommen, mehr Ausstellungen organisieren. Aber irgendwann hat sich das gelegt. Ich kam ja immer wieder.

Ein ganz natürlicher Tod - keine Seltenheit

Er hat niemanden mehr. Reno war nie verheiratet, hat keine Kinder und zu seinen Geschwistern und früheren Freunden hat er keinen Kontakt mehr. Seinen Pflichtverteidiger sieht er nur äußerst selten. Fälle wie Renos sind unbeliebt: schlecht bezahlt und meistens hoffnungslos. Fünf Jahre hatte Reno gar keinen Anwalt, seine Einsprüche lagen auf Eis.
So wie ihm geht es vielen. Die meisten zum Tode Verurteilten sterben eines ganz natürlichen Todes hinter den dicken Mauern in San Quentin. Reno wahrscheinlich auch.

Ein Funke Hoffnung

Aber dann – nach 40 Jahren Todeszelle - blitzt wieder Hoffnung auf.
"Mein Anwalt glaubt, dass er gewinnen wird, wir sind jetzt vor dem Neunten Bundesgerichtshof. Er meint, es komme zu einem neuen Prozess oder vielleicht sogar zu einer Aufhebung des Urteils."